physisches Ereignis. Der die „Duineser Elegien"
liest, wird die Dinge auch noch schmecken und füh-
len. Dann aber wird plötzlich alles zur Deutung, die
Widerspruch oder Glauben herausfordert, oder die
Welt wird gewichtslos, ein Spiel kühnster Freiheit,
wie in der fünften Elegie, die den Seiltänzern gewid-
met ist.
Warum entfremdet hier die Welt, die in das Kunst-
werk eindringt, das Geleistete denen, für die es ge-
leistet sein soll? Ist es das Schicksal der Kunst einer
Epoche, die sich selbst dienen muß, weil nichts sie
verpflichtet? Wir fühlen es alle deutlich: Die Kunst
hat ihre Freiheit zu Ende gespielt. Nicht nur die
Freiheit, die sich selbst zur Fratze wird, sondern
auch die Freiheit, die die Bedingung zu jenem Äußer-
sten ist, das geschaffen wurde, von den Hymnen Höl-
derlins an über das Tragische in Kleist und Hebbel,
bis zu jenen Gesängen des reinsten Dichters, dem sich
das gerühmte und kniend empfangene Ding in den
furchtbaren Engel verwandelte, der „gelassen ver-
schmäht, uns zu zerstören'1.
Soll nun die Kunst Verzicht leisten auf diese „Welt")
die sich nicht wie die Antike in Bildern beruhigen
konnte, die hinausdrängen mußte zur Kunst an sich,
zu jenem Umschlag, in dem die souveräne Beherr-
schung aller Mittel (schon in der Gotik und im
Barock war es so) zu einer Entfremdung führt zwi-
schen der Kunst und ihrem Ursprung: jenen Rinn-
salen heimlicher Sehnsüchte der Menschen eines Blu-
tes, die im Künstler zum Strom werden? Daß man
sich «icht mehr versteht oder mißversteht? Wir
glauben: die Universalität sei nicht aufzugeben, die
Welt nicht hinauszustoßen, das Einfache, höchstes
Ziel jeder Kunst, nicht das Einschichtige, Primitive,
sondern gerade das Alles-Bedeutende. So ist von den
biblischen Gleichnissen zu sprechen, so von jedem Ur-
bild eines Menschlichen und Völkischen, das Gestalt
gewonnen hat. Im Gewollten und Geleisteten unse-
rer Tage bietet das sich manchmal zu leicht; das
Wort, das Dinge ausgesprochen oder gemeint, ist noch
nicht die Wirklichkeit der Dinge, noch nicht das
Leben. Es gilt, was Hölderlin nach einem Weg
wußte, der das Opfer seines Daseins von ihm ver-
langte: „Verbotne Frucht, wie der Lorbeer, ist aber/
Am meisten das Vaterland. Die aber kost' / Ein jeder
zuletzt." Was im Leben eines Volkes Wirklichkeit
und Gegenwart ist, muß in seiner Kunst das Ele-
ment des Ewigen zugemischt erhalten. Sonst holt
jeder Versuch der Gestaltung die lebendige Wirk-
lichkeit nicht ein, sondern bleibt auf eine verächt-
liche Weise hinter ihr zurück.
Die Freiheit, die jetzt die Kunst nicht mehr haben
kann, ist jene mißbrauchte Freiheit, der es gefällt,
an ihrer Aufgabe vorbeizugehen. Was sich heute
vollzieht, scheint uns ein höchst Bedeutsames, etwas,
was der Kunst jenes verlorengegangene Gewicht
wiedergibt, dessen Fehlen ihre höchsten Leistungen
in der vergangenen Epoche ins Unwirkliche verstieß:
Die Gewinnung eines Gegenstandes. Gegenstandslos
war die Kunst geworden, im Kampfe gegen das
falsche „Thema" mußte sie sich selbst zum Gegen-
stand nehmen. Es gilt nicht mehr, „daß eine gutge-
malte Rübe eine schlechtgemalte Madonna über-
treffe'1, weil wir wieder etwas von der Rangordnung
der Dinge ahnen, aber es gilt, daß gerade eine Ma-
donna gut gemalt sein muß, dem Rang entsprechend,
den dieser Gegenstand schon seiner Natur nach hat.
Damit, daß der Kunst wieder der Gegenstand ge-
geben ist: Das Volk, die Nation, die Welt, die Natur
nicht mehr als Verlegenheit und Flucht, sondern
auch gegenständlich, ihre Größe zu rühmen, damit
ist die Kunst nicht leichter geworden, sondern schwe-
rer. Denn unerbittlich mißt sich jede Leistung an
der Ahnenreihe der Leistungen, die ihr vorausgin-
gen. Kunstwerke korrespondieren über die lahrhun-
derte, wenn sie das Leben erfüllt; Kunstwerke distan-
zieren Werke, die mit ihnen nur die Absicht gemein
haben.
L'art pour l'art — es ist viel und Berechtigtes da-
gegen gesagt worden; es soll hier nichts dafür gesagt
sein. Die Abwendung von einem Falschen ist erst
die Möglichkeit zur wahren Tat. L'art pour l'art: das
muß der strenge Wille des Künstlers bleiben, nichts
zu wollen als ein Werk, das Gesetz und Grenze nicht
mehr in sich, sondern im Moralischen hat. Das Mora-
lische, das sich von selbst versteht, besagt, daß ich
Glied eines Volkes, verantwortlich einem Volke bin,
das ist dann die neue Freiheit der Kunst. Daß sie alle
ergreift, das ist nicht selbstverständlich. Es ist das
höchste Geschenk einer Zeit und einer Nation an
ihre Künstler. Es ist aber auch die Bereitschaft jedes
Gliedes eines Volkes, den Weg zur Höhe zu finden,
der steil und mühsam sein muß. Es gibt nicht nur
den Hochmut des Künstlers, es gibt auch den Hoch-
mut des Genießenden. Wenn sich das Moralische von
selbst versteht, dann wird man nicht mehr darüber
zu streiten brauchen, ob die Kunst nicht von falschen
Voraussetzungen ausgeht, sondern man wird prüfen
können ohne Verdacht, nur mit dem Willen, Schwa-
ches nicht für Starkes zu nehmen. Dann ist die Kunst
für den Menschen, der guten Willens ist.
Der Dichter, der noch schwer an dem Schicksal trug,
eine einzelne Stimme zu sein, wo er die Stimme aller
Herzen sein wollte, hat diese Zuversicht ausgespro-
chen in Versen, die er in ein Exemplar der „Duine-
ser Elegien" für Robert Faesi schrieb:
Wo sich langsam aus dem Schon-Vergessen
Einst Erfahrnes uns entgegenhebt,
Rein gemeistert, milde, unermessen
Und im Unantastbaren erlebt:
Dort beginnt das Wort, wie wir es meinen,
Seine Geltung übertrifft uns still.
Denn der Geist, der uns vereinsamt, will
Völlig sicher sein, uns zu vereinen.
(Deutsche Zukunft, 11. 9. 58)
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liest, wird die Dinge auch noch schmecken und füh-
len. Dann aber wird plötzlich alles zur Deutung, die
Widerspruch oder Glauben herausfordert, oder die
Welt wird gewichtslos, ein Spiel kühnster Freiheit,
wie in der fünften Elegie, die den Seiltänzern gewid-
met ist.
Warum entfremdet hier die Welt, die in das Kunst-
werk eindringt, das Geleistete denen, für die es ge-
leistet sein soll? Ist es das Schicksal der Kunst einer
Epoche, die sich selbst dienen muß, weil nichts sie
verpflichtet? Wir fühlen es alle deutlich: Die Kunst
hat ihre Freiheit zu Ende gespielt. Nicht nur die
Freiheit, die sich selbst zur Fratze wird, sondern
auch die Freiheit, die die Bedingung zu jenem Äußer-
sten ist, das geschaffen wurde, von den Hymnen Höl-
derlins an über das Tragische in Kleist und Hebbel,
bis zu jenen Gesängen des reinsten Dichters, dem sich
das gerühmte und kniend empfangene Ding in den
furchtbaren Engel verwandelte, der „gelassen ver-
schmäht, uns zu zerstören'1.
Soll nun die Kunst Verzicht leisten auf diese „Welt")
die sich nicht wie die Antike in Bildern beruhigen
konnte, die hinausdrängen mußte zur Kunst an sich,
zu jenem Umschlag, in dem die souveräne Beherr-
schung aller Mittel (schon in der Gotik und im
Barock war es so) zu einer Entfremdung führt zwi-
schen der Kunst und ihrem Ursprung: jenen Rinn-
salen heimlicher Sehnsüchte der Menschen eines Blu-
tes, die im Künstler zum Strom werden? Daß man
sich «icht mehr versteht oder mißversteht? Wir
glauben: die Universalität sei nicht aufzugeben, die
Welt nicht hinauszustoßen, das Einfache, höchstes
Ziel jeder Kunst, nicht das Einschichtige, Primitive,
sondern gerade das Alles-Bedeutende. So ist von den
biblischen Gleichnissen zu sprechen, so von jedem Ur-
bild eines Menschlichen und Völkischen, das Gestalt
gewonnen hat. Im Gewollten und Geleisteten unse-
rer Tage bietet das sich manchmal zu leicht; das
Wort, das Dinge ausgesprochen oder gemeint, ist noch
nicht die Wirklichkeit der Dinge, noch nicht das
Leben. Es gilt, was Hölderlin nach einem Weg
wußte, der das Opfer seines Daseins von ihm ver-
langte: „Verbotne Frucht, wie der Lorbeer, ist aber/
Am meisten das Vaterland. Die aber kost' / Ein jeder
zuletzt." Was im Leben eines Volkes Wirklichkeit
und Gegenwart ist, muß in seiner Kunst das Ele-
ment des Ewigen zugemischt erhalten. Sonst holt
jeder Versuch der Gestaltung die lebendige Wirk-
lichkeit nicht ein, sondern bleibt auf eine verächt-
liche Weise hinter ihr zurück.
Die Freiheit, die jetzt die Kunst nicht mehr haben
kann, ist jene mißbrauchte Freiheit, der es gefällt,
an ihrer Aufgabe vorbeizugehen. Was sich heute
vollzieht, scheint uns ein höchst Bedeutsames, etwas,
was der Kunst jenes verlorengegangene Gewicht
wiedergibt, dessen Fehlen ihre höchsten Leistungen
in der vergangenen Epoche ins Unwirkliche verstieß:
Die Gewinnung eines Gegenstandes. Gegenstandslos
war die Kunst geworden, im Kampfe gegen das
falsche „Thema" mußte sie sich selbst zum Gegen-
stand nehmen. Es gilt nicht mehr, „daß eine gutge-
malte Rübe eine schlechtgemalte Madonna über-
treffe'1, weil wir wieder etwas von der Rangordnung
der Dinge ahnen, aber es gilt, daß gerade eine Ma-
donna gut gemalt sein muß, dem Rang entsprechend,
den dieser Gegenstand schon seiner Natur nach hat.
Damit, daß der Kunst wieder der Gegenstand ge-
geben ist: Das Volk, die Nation, die Welt, die Natur
nicht mehr als Verlegenheit und Flucht, sondern
auch gegenständlich, ihre Größe zu rühmen, damit
ist die Kunst nicht leichter geworden, sondern schwe-
rer. Denn unerbittlich mißt sich jede Leistung an
der Ahnenreihe der Leistungen, die ihr vorausgin-
gen. Kunstwerke korrespondieren über die lahrhun-
derte, wenn sie das Leben erfüllt; Kunstwerke distan-
zieren Werke, die mit ihnen nur die Absicht gemein
haben.
L'art pour l'art — es ist viel und Berechtigtes da-
gegen gesagt worden; es soll hier nichts dafür gesagt
sein. Die Abwendung von einem Falschen ist erst
die Möglichkeit zur wahren Tat. L'art pour l'art: das
muß der strenge Wille des Künstlers bleiben, nichts
zu wollen als ein Werk, das Gesetz und Grenze nicht
mehr in sich, sondern im Moralischen hat. Das Mora-
lische, das sich von selbst versteht, besagt, daß ich
Glied eines Volkes, verantwortlich einem Volke bin,
das ist dann die neue Freiheit der Kunst. Daß sie alle
ergreift, das ist nicht selbstverständlich. Es ist das
höchste Geschenk einer Zeit und einer Nation an
ihre Künstler. Es ist aber auch die Bereitschaft jedes
Gliedes eines Volkes, den Weg zur Höhe zu finden,
der steil und mühsam sein muß. Es gibt nicht nur
den Hochmut des Künstlers, es gibt auch den Hoch-
mut des Genießenden. Wenn sich das Moralische von
selbst versteht, dann wird man nicht mehr darüber
zu streiten brauchen, ob die Kunst nicht von falschen
Voraussetzungen ausgeht, sondern man wird prüfen
können ohne Verdacht, nur mit dem Willen, Schwa-
ches nicht für Starkes zu nehmen. Dann ist die Kunst
für den Menschen, der guten Willens ist.
Der Dichter, der noch schwer an dem Schicksal trug,
eine einzelne Stimme zu sein, wo er die Stimme aller
Herzen sein wollte, hat diese Zuversicht ausgespro-
chen in Versen, die er in ein Exemplar der „Duine-
ser Elegien" für Robert Faesi schrieb:
Wo sich langsam aus dem Schon-Vergessen
Einst Erfahrnes uns entgegenhebt,
Rein gemeistert, milde, unermessen
Und im Unantastbaren erlebt:
Dort beginnt das Wort, wie wir es meinen,
Seine Geltung übertrifft uns still.
Denn der Geist, der uns vereinsamt, will
Völlig sicher sein, uns zu vereinen.
(Deutsche Zukunft, 11. 9. 58)
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