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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 6.1895

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Hagen, L.: Die Entwicklungsgeschichte der modernen Geschmacksbildung
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Zllustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Znnen-Dekoration.

Seite 7f.

April-kfeft.

wir ihnen mit der Frage, warum denn das, was gewesen ist, nicht nochmals
sollte werden können. Nur wer überhaupt nicht das geringste verständniß
für das Wesen der Gegenwart hat, wird an ihrem Können zweifeln. Ganz
abgesehen von dem vielen greifbar Guten, das wir bereits erreicht haben,
besitzen wir die Garantie, daß ein vollkommeneres Schöne die Frucht unseres
Streben? sein wird.

Lin Wink zum schnelleren Fortschritt auf diesem Wege scheint mir in
lüouuräo äs, Vruoi's wissenschaftlicher Methode zu liegen. Ls kann kein
Zweifel darüber bestehen, daß rein mechanische äußere Linflüsse das Schön-
heitsempfiuden des Auges fördern oder beeinträchtigen können. Schon der
Blick des Landkindes, das in freier Natur aufwuchs, reicht weiter, als der
des Großstädters, dem immer die Straßen den Ausblick versperren. Unter
diesem Gesichtspunkte wird das Schicksal der märkischen Gutsbesitzerstochter
verständlich, die in der Schweiz von unüberwindlicher Sehnsucht nach einem
Ausblick ins Freie befallen wurde. „Wie ungebildet", sagt der aesthetische
Naturschwärmer, der, den Bädecker in der Hand, ganz Europa
abgeklappert hat. Za, wenn nur der Verehrer des Hochromantischen
gebildet wäre! Ls hört sich sehr gut an, wenn man pathetische
Betrachtungen darüber austellt, wie Rothenburg a. d. Tauber eine
malerische und Berlin eine photografische Stadt sei. Damit aber
ist nichts geholfen. Für den, der an eine Fortschrittsmöglichkeit in

Witzbold sie einmal genannt. Aber auch diese Auffassung ihrer Lichtseite ist
bereits veraltet — wo die Begriffe fehlten, stellte das Wort sich ein: die
edle Reklame füllt jetzt den Hä'usgiebel. Sie bildet, da die hartnäckige
Menschheit noch i,inner mit der übelen Angewohnheit geboren wird, den
Blick vorwärts zu richten, augenblicklich das wesentlichste ästhetische An-
schauungsmittel auf der modernen Straße.

Man könnte sich über die Farbenarmuth und die Proxortionsverschie-
bungen draußen trösten mit dem Hinweis darauf, daß es drinnen besser
aussieht. Nebenbei bemerkt, weist auch der Westen Berlins und der Stadt-
theil Moabit Bauten auf, die durch Betonung der vertikalen Linien die
schwindelnden Miethskasernen wieder in proportionirte, getragene Häuser mit
fester Grundlage zu verwandeln suchen, so daß das Lnde des äußeren Elends
abzusehen ist, um so mehr, da die großen Städte anfangen, Schulbaracken
statt Schulkasernen zu errichten. Also: man könnte sich mit einem Hinweis
auf die bessere, unvermeidlich herankommende Zukunft trösten, wenn nicht

die Projektionsverschie-
bungen auch von außen
nach innen gedrungen
wären. Oer einzelne
wohnraum hat zunächst
im Bürgerhause ganz

Abbildung Nummer 87. Eck-Möbel im neuen Keichstngs-Gebäude, von Z. D. Heymann, Hamburg.

der Gegenwart glaubt, lautet die Frage: warum ist Rothenburg eine
malerische und Berlin eine fotografische Stadt geworden? Die Antwort
auf diese Frage würde sich etwa folgendermaßen gestalten: Die frühe deutsche
oder überhaupt europäische Baukunst trug einen ausgesprochen kirchlichen
Karakter. Für fürstliche Behausungen, für Burgen und Pfalzen ließ sich
dieser Baustil ganz gut modifiziren; im Städtebau stieß er schon auf Schwierig-
keiten. Die Fischergrube, Beckergrube, Marler- usw. Gruben in Lübeck zeugen
noch heute davon, mit welchem sicheren Blick für das Praktische, mit welchem
gesunden Gefühl für das Schöne das hanseatische Kraftbewußtsein diese
Schwierigkeiten überwand. Das Wesentliche, für die Neuzeit Mustergültige
liegt hier in der Thatsache, daß die Hausgiebel dem Vorübergehenden im
Profil erscheinen, so daß er nicht fortwährend Linien und Flächen, die nur
von einem gegenüberliegenden Punkte gesehen werden sollen, in einer ver-
schobenen Perspektive erblickt. Der veränderte Karakter, den das Schaufenster
in diesen alten Handelshäusern annimmt, ist schon allein ein Kapitel für den
Architekten der Neuzeit. Ueberall kommt das Bemühen zur Geltung, den
Inhalt des Fensters im Winkelschnitt gegen die Richtung des Passanten zu
legen. Unsere überrasch anwachsenden großen Städte entlehnten ihre Motive
von Renaissancepalästen, die allerdings den vortheil größerer Dehnbarkeit
des Fensters boten, aber keine geschlossene Straßenfront vertragen. Zn Folge
dessen hat denn ein großer Bruchtheil unserer Bevölkerung, und zwar gerade
derjenige, aus dem sich die Kunstgewerbebeflissenen rekrutiren, von klein auf
nichts Anderes vor Augen, als unproportionirte Bauten mit überladenen
Frontseiten, neben denen vernachlässigte Giebelseiten in grauser Nacktheit
starren. „Die Zufluchtsstätte der Gedankenfreiheit" hat ein hartherziger

erhebliche Erweiterungen, besonders in der Höhe, erfahren. Gesundheitliche
Rücksichten, das wachsende Bedürfniß nach Licht und Luft, das mit dem
erhöhten Arbeitsmaß der Liuzelneu steigt, sind hier so gebieterisch maßgebend,
daß alle rllckblickenden Betrachtungen, etwa in die wendische Bauernstube,
die „Schiffergesellschaft" in Lübeck, die Renaissancezimmer im Berliner Kunst-
gewerbemuseum, die rauchgeschwärzten Balken in Milton's schlichter Behau-
sung und was sonst noch, hinfällig werden. Das Unglück bei diesen Erwei-
terungen des Einzelraumes ist nur das, daß sie lediglich im mathematischen,
nicht im architektonischen Sinne erfolgen. Decke, wände und Fußboden sind
nirgends klar architektonisch motivirt. wir befinden uns in kubischen Räumen
deren Höhlung wir unser kostbares Leben nur deshalb anvertrauen, weil die
Gewohnheit uns belehrt, daß sie nicht einstürzen. Das Auge wird von dieser
Thatsache nirgends überzeugt. Und doch ist es in erster Linie verpflichtet,
über die Sicherheit des Lebens zu wachen.

Es würde zu weit führen, im Einzelnen darauf hinzuweisen, wie sehr
die Gothik und Renaissance in diesem Sinne beruhigend und erziehlich auf
das Auge wirken. Das moderne Möbel konnte nicht im architektonischen
Sinne in die neuen Räume hineinwachsen, wie es das Renaissancemöbel
that, weil es der vielen Umzüge wegen kleiner und beweglicher werden
mußte. So sind denn auch hier die Proportionen nochmals verschoben und
es bleibt im Hause kein erziehendes Anschauungselement, welches das Auge
an feine Formverhältnisse und tiefdurchdachte, klare Abmessungen gewöhnt.

Der Gegenwart gebührt das unverkürzte Lob, auf dem Gebiete der
Farbe in der Dekoration schon wesentliche Fortschritte gemacht zu haben. Dies
Verdienst ist um so höher anzuschlagen, je mehr immer der eintönige Sandstein
 
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