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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 6.1895

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Volbehr, Theodor: Die Ankläger des modernen Kunstgewerbes
DOI Artikel:
Statsmann, Karl: Architektur und Innen-Dekoration, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.6759#0234

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Leite f78.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

November-Peft.

dem Worte „Ltil" wird großer Unfug getrieben. „Ltil" bedeutet
nichts Anderes, als der künstlerische Ausdruck eines Zeitkarakters.
Ist der Aeitkarakter ein vielseitiger, von historischen Interessen
erfüllter, dann muß der „Ltil" dieser Vielseitigkeit Rechnung
tragen, historische Anlehnungen zeigen; sonst wäre er kein wirk-
licher „Ltil" eines Zeitalters. Die
Renaissance zeigt in ihrem ganzen
Aarakter eine starke Bevorzugung
des klassischen Alterthums und gleich-
zeitig eine starke Freude an dem
natürlichen Leben, an Allem, was
kreucht und fleucht. Aus dieser
Doppelrichtung erklärt sich dasAunst-
handwerk der Renaissance mühelos
in allen einzelnen Aeußerungen.

Unser Zeitalter hat mit der Renais-
sance das gemein, daß es starken
Linn für die Aunst der Vergangen-
heit hat; aber nicht allein für die
Aunst oder das Aunsthandwerk Roms
und Griechenlands, sondern gleich-
zeitig für das Aunsthandwerk anderer
Länder und anderer Zeiten. Das
historische Interesse ist gewachsen,
ist vielseitiger geworden. Daher gibt
es auch für den Aunsthandwerker
mehr lockende Vorbilder als sie das
s6. Jahrhundert besaß. Unser Zeit-
alter hat ferner mit der Renaissance
das gemein, daß es für die Natur
ein lebhaftes Interesfe hat; aber
nicht nur ein Interesfe für die äußere
Erscheinung des kreatürlichen Lebens,
sondern ebensowohl für die inneren
Bedingungen dieses Lebens. Das Interesse des Naturforschers,
das überall nach den Wurzeln der Dinge sucht, ist rege in der
ganzen neueren Aulturwelt. Das muß natürlich seinen Einfluß
auch auf das Aunsthandwerk ausüben. Wer sich gewöhnt hat,

überall nach dem „Woher?" „Aus welchen Gründen?" zu fragen,
der kann nicht anders, als auch bei kunstgewerblichen Gegenständen
fragen: „Warum ist dieser Gegenstand so und nicht anders
gestaltet? Verlangte der Gebrauchszweck gerade diese Form?
Ergab sich aus dem Ltoff des Gegenstandes gerade diese Art

der Behandlung?" Lolche Fragen
aber führen weigerungslos auf einen
künstlerischen Ltil, wie er uns im
englischen und im amerikanischen
Aunstgewerbe der Gegenwart ent-
gegentritt. Durch diesen Doppelzug
des Zeitkarakters ist nun natürlich
eine Vielseitigkeit des Denkens und
Empfindens in die Menschheit hinein-
gekommen, daß es geradezu kindlich
berührt, wenn man die Forderung
hört, das moderne Aunsthandwerk
solle seine krause Vielgestaltigkeit auf-
geben. In dem Augenblick, in dem
die Menschheit wieder aufhört, diese
Fülle der Interessen, der geistigen
Lebensbedürfnisse zu haben, in dem
Augenblick wird das Aunsthandwerk
auch die Vielseitigkeit an den Nagel
hängen, aber nicht eine Minute früher.

Leit der Emanzipirung der
Völker in politischer Beziehung ist
der Aultus der Individualität in
stetem Lteigen begriffen, das peerden-
gefühl hat abgenommen. 5o ist
auch der Geschmack ein individueller
geworden. Die Lebensführung jedes
Einzelnen, seine Erziehung, seine
Anschauungen geben ihm einen per-
sönlichen Geschmack, den er zu befriedigen suchen wird. Das
muß das Aunsthandwerk berücksichtigen. Lo lange der Auftrag-
geber die Airche war, wie im Mittelalter, oder das städtische
Patrizierthum, wie in der Renaissancezeit, oder der pof, wie in

Mrchitekturf und -Dnnen-^Mekoratimi.

Plauderei von Aarl Statsmann, Architekt. <Fortsetzu„g von Seite

atten uns nun ein freundlicher Flur und ein schönes
Treppenhaus, welch letzteres auch durch einfachen weißen
Wandputz und dunkeler Lockelvertäfelung stimmungs-
voll wirken kann svergl. Behrs Abhandlung, Iahrg. s8flO d. Z.)
auf die zu betretende Wohnung vorbereitet, so erwarten wir mit
Recht in letzterer nicht weniger einen gefälligen Ausdruck.

Lchweifen wir ein wenig ab von der modernen Wohnung,
um zu sehen, welche Motive der deutschen Wohnung vergangener
Jahrhunderte wir für heute benutzen können. Gerade für Aus-
bildung von Flur, Pallen und Treppenhaus dürfte sich da manche
Anregung ergeben.

Bei unseren Vorfahren und im Besonderen im s6. Jahr-
hundert, der Geburtszeit der „deutschen Renaissance", ergab sich
das, was man in Bezug auf Wohnungs-Einrichtung Ltil und
stilvoll zu nennen beliebt, ganz von selbst ohne Beihülfe von
Dekoratör und Bewohner, und man soll nicht glauben, der Linn
für „stilvolle", für gemächliche Innen-Dekoration sei früher größer
gewesen als er heute ist. Nein, vielmehr ist gerade in unserer
Zeit das Bedürfniß einer größeren Wohnlichkeit und einer an-
sprechenderen Innen-Dekoration mehr denn zu irgend einer Zeit
von allgemeinerem Interesse für weite Lchichten unseres Volkes
geworden. Die ganze architektonische Innen-Dekoration

der altdeutschen Wohnung, womit man die seit dem Anfang
des Mittelalters entstandene Wohnung meint, ergab sich einfach
aus der Aonstruktion der Bauwerke. Betrachten wir unter anderen
die feit dem Aufblüheu deutscher Ltädte übliche bürgerliche Woh-
nung, so finden wir das Gesagte am deutlichsten bestätigt. Die
örtliche Bedingung, daß innerhalb der straff umgürtenden Ltadt-
mauern die päuser weniger nach der Länge und Breite der Grund-
stücke als nach ihrer pöhe entwickelt werden konnten, führte zu
einer Ausnutzung der Grundstücke ihrer pöhenentwickelung nach.
Aber auch letztere hatte ihre Grenzen. In den schon seit dem
Anfänge des f2. Jahrhunderts für den Wohnhausbau und dessen
typische Entwickelung im nördlichen Deutschland maßgebenden
Lee- und Pansestädten finden wir die Urformen für jene so äußerst
traulichen Bürgerwohnungen, wie sie uns heute wieder zum Vor-
bilde dienen und mit Recht in Vielem musterhaft erscheinen. Im
südlichen Deutschland bildet sich zu gleicher Zeit eine typische
Wohnungsform, der wir ebenfalls anregende Motive entnehmen.
Aarakteristisch für die nordische Wohnung ist eine Grundrißart,
bei welcher die Wohnräume um eine große nach der Ltraße durch
die pausthüre oder ein Thor sich öffnende Diele gruppirt sind.
Miethsräume nach Art unserer modernen mit mehr als drei Ge-
schossen finden sich bei Anlagen von Wohnhäusern früherer Jahr-
hunderte höchst selten. Gewöhnlich sind zwei Ltockwerke durch
die in der Diele liegende offen eingebaute Polztreppe erreichbar.
In pandelsorten beginnt dann über dem zweiten Stockwerk der
Lpeicherraum, welcher sich über den ganzen Wohnungszrundriß
 
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