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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 28.1930

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Heft 3
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Friedländer, Max J.: Graphologe und Kunstkenner
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https://doi.org/10.11588/diglit.7609#0115

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GRAPHOLOGE UND KUNSTKENNER

VO N

MAX J. FRIEDLANDER

[| er Kunstkenner kann von dem Graphologen
lernen. Freilich lebt die Schriftdeutung von
der Intuition, und ein Prophet wird von dem anderen
nicht soviel lernen können wie ein Mathematiker
yon dem anderen. Ahnlich wie die Kunstforscher
simulieren die Graphologen Wissenschaftlichkeit
und ziehen einen Strich zwischen ihrer systema-
tischen und lehrbaren Analyse einerseits und der
hellseherischen Weissagung andrerseits. Ich ver-
mute aber, daß die gelehrten Schriftdeuter dem
Instinkte mehr verdanken, als sie zugestehen, als
ihnen bewußt wird, und daß die Hellseher aus
der Erfahrung mehr für ihr intuitives Urteil ge-
winnen, als sie ahnen.

Der scharfsinnige Graphologe*, der sich Rechen-
schaft gibt über die Voraussetzungen und Bedin-
gungen seiner Ermittlung, geht von der Erkennt-

* Vgl. R. Saudek, Wissenschaftliche Graphologie (1926).

nis aus, daß die Schrift als ein Verständigungs-
mittel aus vereinbarten Zeichen besteht, daß Lands-
leute und Generationsgenossen dieselbe Schule
durchgemacht, nach derselben Vorlage schreiben
gelernt haben, deshalb dieselben Schriftformen ver-
wenden. Die Tendenz der Schriftbildung ist auf
Lesbarkeit und somit auf Nachahmung gerichtet.

Die Schrift verrät um so mehr von dem Cha-
rakter, je weniger deutlich der Schreibwille sich
der Konvention erinnert, je ferner von seiner Lehr-
zeit der Schreibende steht, je länger er die Schreib-
pflicht erfüllt hat. Demnach sagt ceteris paribus
das für den Setzer bestimmte Manuskript weniger
aus als der Brief, und der Brief weniger als etwa
ein Tagebuch. Die unlesbare Schrift, in der gänz-
lich auf Verwendung verabredeter Zeichen ver-
zichtet wird, wäre im Extrem das deutlichste
Psychogramm.
 
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