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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 28.1930

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Heft 7
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Scheffler, Karl: Der Sechzigjährige Henri Matisse: in der Galerie Thannhauser, Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.7609#0311

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HENRI MATISSE, KAUERNDE VENUS

MIT ERLAUBNIS DER D. D. A. AUSGESTELLT IN DER GALERIE THANNHAUSER, BERLIN

DER SECHZIGJÄHRIGE HENRI MATISSE
IN DER GALERIE THANNHAUSER, BERLIN

Hans Purrmann erzählt — auch in dem anmutigen Vor-
wort des Katalogs spricht er davon —, wie es war, als
er vor etwa zwanzig Jahren die erste Matisse-Ausstellung
für die Berliner Secession vermittelt hatte, welches Entsetzen
sie dort, auch bei den Künstlern, erregte, wieviele Vorwürfe
er hören mußte, und wie peinlich sich der persönliche Auf-
enthalt für Matisse in Berlin dann gestaltete. Das ist heute
kaum zu begreifen. Denn inzwischen ist Matisse zu einem von
Widerspruch nicht mehr getrübten Welterfolg gelangt, er ist
einer der berühmtesten lebenden Maler geworden, dessen
Bilder in Paris und Amerika sehr teuer bezahlt werden. Ja,
inzwischen hat sich die Schätzung so gewandelt, daß die
Bilder eines Künstlers, der dem Publikum damals wild und
roh erschien, dem Kunstfreund heute zuweilen zu gefällig,
zu dekorativ scharmant erscheinen wollen. Man sieht daran,
wie sehr sich die Sehweise verändert hat. Ihr sind in der
Zwischenzeit einige Pferdekuren zugemutet worden, so daß
sich das Auge nicht mehr leicht verblüffen läßt. Matisse
freilich, das muß zugegeben werden, ist in den letzten beiden
Jahrzehnten, in denen wir immer nur einzelne Bilder von
ihm kennen lernten, so daß wir für diese umfassende Aus-
stellung der Galerie Thannhauser aufrichtig dankbar zu sein
haben, immer weniger ein „Fauve" geworden. Das Grund-
sätzliche seiner Bildaufteilung, seines Körperkanons, seiner
Lehren von den Kontrastwirkungen der Farbe ist hinter
schönem Schein, hinter lebendigen Eindrücken mehr zurück-

getreten. Dafür ist deutlicher geworden, was er der großen
französischen Tradition verdankt. Dieser Ausschnitt seines
Lebenswerkes zeigt von neuem, daß in der französischen
Kunst eigentlich nie etwas verloren geht: Matisse ist heute
einer der glücklichsten Erben, er verdankt seinen abendlän-
dischen Erfolg ebensosehr seinen großen Vorgängern als sich
selber.

Er ist entfernt von dem großen Format Manets, Renoirs,
Degas' und Cezannes; als Enkel aber, als ein Nachfolger
des Impressionismus steht er mit an erster Stelle. Mit Recht
ist er allen nachimpressionistischen Malern ein Lehrer ge-
worden, hat sich an seinem hellen und warmen Kunstverstand
eine ganze Generation orientiert und korrigiert. Er ist ein
Meisterlehrer, der das, was er lehrt, vormachen kann.

Freilich ist er ungleich, noch heute mit sechzig Jahren,
so daß neben klarer Naturergründung auch nur dekorativ
Reizvolles steht, Puppenhaftes neben dem Lebendigen und
Ungefähres neben Realisiertem. Ja, in demselben Bild sind
nicht selten zwei verschiedene, nicht zueinander passende
Arten der Anschauung, Plastisches neben Flachem, Kon-
kretes neben Abstraktem. Eine wunderschön gemalte Schale
mit Früchten steht unwahrscheinlich vor einem Hintergrund,
der nur Dessin ist. Fast immer aber gibt ein zauberhafter
Geschmack der Malerei Geschmeidigkeit und höchste Deli-
katesse ; ein sinnliches Auge faßt alles synthetisch und bildet
aus Klängen Harmonien, so faszinierend, daß man des Didak-

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