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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 17.1882

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Wittmer, Gustav: Kunstgewerbliche Unterrichts- und Organisations-Fragen, [1]
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Kunstgewerbliche Unterrichts- und Organisations-Fragen.

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neuerer Zeit noch besonders dadurch geschädigt worden,
daß die Gesetzgebung auf Grund eiues allzu einseitig
aufgefaßten Freiheitsprinzips die alten Grundlagen der
gewerblichen Ordnung zerstört hatte, ohne doch da-
für entsprechenden Ersatz zu bieten. Weder von
Seite der Schule noch von der des eigenen Standes
und Gewerbes ward dem angehenden Handwerker eine
fachmäßige Ausbildung zu teil. Dazu kam, daß über-
haupt der moderne Bildungsdrang ein einseitig geistiger
war, die Handarbeit hatte mit ihrer Svlidität und
Schönheit auch das Ehrenvolle eingcbüßt, welches
sie frühcrhin besaß, und die bildungsbedürstigcn Ele-
mente des Volkes wandten sich von ihr ab und den
höheren Berufsfächern zu. Die Ausbilduug des unbe-
mittelten Handwerkers blieb vollends dem blindcn
Zufall überlassen. Kam er zu einem tüchtigen Meister,
so konnte er etwas lernen; in den meisten Fällen aber
warcn unsere moderncn „Meister" selbst mehr des
Lernens bcdürftig, als fähig zum Lehren.

Dies alles wirkte zusammen, unser Handwerk her-
unter zu bringen und die große Niederlage herbeizu-
führcn, welche dasselbe auf der ersten Wiener Welt-
ausstellung und auf einigeu späteren Ausstetlungen
erlebte. Wie sehr Deutschland anderen Ilationen
gegenüber zurückgeblieben war, wurde bei diesen Ge-
legenheiten recht offenbar. Es nützte nichts, die Schäden
zu verhüllen, man mußte sich ihrer klar bewußt werden,
um sie heilen zu können. Das berühmte Wort des
Prof. Neuleaux: „Billig und schlecht", hatte iu der
That seinerzeit für den bei weitem größten Teil des
deutschen Handwerks — rühmliche Ausnahmen giebt
es ja stets — seine große Berechtigung, und alleu
denen, welche sich seit einigen Jahrzehnten nur einiger-
maßen um den Stand unserer heimischen Jndustrie
bekümmert hatten, sagte Herr Reuleaux damit durchaus
nichts neues. Man halte damit zusammen die Kon-
sularberichte, welche in neuerer Zeit der Staatsan-
zeiger veröffentlichte, und man wird keinen Widerspruch
finden. Jedem Deutschen muß bei Lektüre dieser Be-
richte die Schamröte ins Gesicht steigen, wenn man
liest, wie ein großer Teil der deutschen Fabrikanten und
Handwerker sich nicht entblödete, ganz im Gegensatz
zu den Handelsprinzipien des verrufenen Mittelalters,
dem Auslande gegenüber einen gänzlichen Mangel an
Solidität und Ehrbarkeit an den Tag zu legen. Leider
muß freilich auch dem deutschen Publikum selbst ein
Teil der Schuld beigemessen werden, insoferu es in
den meisten Fälleu die schlechte und billige Ware der
guten und preiswürdigen vorzieht und so die Fabri-
kanten und Handwerker veranlaßte, das Gleiche zu thun.

Um aber zu erkennen, wieviel künstlerisches Talent
in unserem Volk verborgen liegt und von wie großer
Bedeutung auch in materieller Hinsicht es ist, dasselbe

wieder zu erwecken und auszubilden — denn dessen be-
darf es ja blos — brauchen wir uns nur an die eigene
Vergangenheit zu erinnern, an jene blühenden Städte
des Mittelaltcrs, die Reichtum und Macht nicht dem
Handel allein, fondern wesentlich auch dem eigencn
Schaffen in Kunst und Jndustrie zu danken hatten. Jhr
Beispiel mag uns lehren, cin wic mächtiger Hebcl
des nationalcn Woblstandcs in der Pflege der schönen
Künste und Gewerbe gegebeu ist! Die Einsicht, daß
letztere nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine
volkswirtschaftliche Fordernng sei, dürfte nachgerade eine
allgemeine gewordcn sein. Nachdem in dcr dcntschen
Reichshauptstadt eine neue Periode der monumentalen
wie der Privatarchitektur begonnen hat, und Hand in
Hand damit auch die Kunstindustrie einer weitercn
Entwickelung zugesührt wird, dürfen wir hoffen, daß
dieses Streben in immer weitere Kreise dringen und
auch im ganzen deutschen Norden, die bildende Kunst,
im weitesten Sinne gefaßt, bald einen neuen Auf-
schwung nehmen werde, wie sie ihn in Osterreich und
in einem Teil der sllddeutschen Staaten längst ge-
nommen. Mit Macht wird sich die Thätigkeit dcs
Volkes allen Werken des Friedens zuwenden, nachdem
wir diesen selbst wieder erlangt haben und mit ihm
eine neue Basis unserer politischen Zustände. Wir
haben Österreich, wir haben Frankreich besiegt, aber
größer noch wird die Bedeutung dieser Siege werden,
wenn es uns, wie nicht zu zweifeln, gelingt, auch auf
friedlichem Gebiete den Wettstreit mit beiden mit Er-
folg aufzunehmen. Es ist gewissermaßen auch eine
moralische Verflichtung, die uns dazu drängt.

Und viel ist auch in verhältnismäßig kurzer Zeit
schon bei uns geleistet worden. Wie einst die erste
Weltausstellung zu London im Jahre 1851 die An-
regung zur Neugestaltnng des kunstgewerblichen Unter-
richtswesens in England gab und zwar zum größten
Segen des Landes, dessen Ausfuhr sich infolgedessen sehr
bedeutend erhöht hat, so mußteu die später bei uns
selbst gemachten Erfahrungen von ähnlichem Einsluß
auf die Entwickelung unserer heimischen Kunstzustände
werden und die Aufmerksamkeit der leitenden Kreise
darauf hinlenken. Jn London dominirte damals noch
die französische Abteilung allein, aber England trat
danach bald Frankreich würdig zur Seite. Auf der
Wiener Ausstellung mußten wir noch das Übergewicht
Österreichs, Frankreichs und EnglandS anerkennen, aber
auch hier war mit der Erkenntnis unserer Mängel
zugleich der Anfang der Befferung gegeben. Konnte
Reuleaux noch auf den amerikanischen Ausstellungen
sich veranlaßt fehen, jenen Ausspruch zu thun, der
seitdem soviel Staub aufgewirbelt hat, so war auf
denen Australiens bereits ein bedeutender Fortschritt
der deutschen Jndustrie zu koustatiren, ja wir brauchen,
 
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