Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1905)
DOI Artikel:
Vogel, Max Alfred: Gedichte in der Volksschule, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0091

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Einige Tage später sag ich den Kleinen das Gedicht. Langsam,
deutlich, möglichst dramatisch, aus der starken, warmen Begeisterung
heraus, die ich empfinde. . . war so jung und morgenschön." Jn
dem Worte jung mnß Jugend klingen und aus den Augen leuchten,
und die Freude, die bei „morgenschön" ausstrahlt, muß den Kindern
das Bild der taufrischen Knospe Heraufbringen. Und schnell, mit aller
Ungeduld und Ahnung: „Lies er schnell, es nah zu sehn" und als
Erfüllung, staunend und glücklich über das Röslein gebeugt: „Sah's
mit vielen Freuden!" Noch als Ersüllung, wie Musik, wie ein Aus-
kosten des Anblickes: „Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf
der Heiden".

Das folgende Zwiegespräch kindlich und dramatisch: „Knabe
sprach: Jch breche dich- Röslein auf der Heiden". Der Ton muß
knabenhast sein. „Röslein svrach: Jch steche dich, daß du ewig denkst
an mich, und ich will's nicht leiden."

Hier kommt einem wohl unwillkürlich die charakteristische, trotzige
Kopfbewegung, mit der die kleinen Mädchen das: „ich will's nicht
leiden" sagen. Vielleicht anch ein leises Fußausstampfen — aber nur,
wenn der Antrieb von innen so stark ist, daß er diesen Ausdruck
„natürlich" erfordert.

Jetzt ist der Höhepunkt erreicht. Ein kurzes Zögern der Span-
nung, und man berichtet mit allem Anteil das Ergebnis: „Und der
wilde Knabe brach's Röslein auf der Heiden". Dies mit Ernst, ein
wenig traurig, und doch von leiser Schalkheit überslogen — keine
Sentimentalität. Dann mit Triumph: „Röslein wehrte sich und
stach . . ."

Jch sage das Gedicht noch einmal und noch einmal, immer mit
derselben Frische und Lebendigkeit, also so lange ich selber in Stim-
mung bin. Jch sage — wie beiläufig —, wo das Gedicht im Buche
steht. Am nächsten Morgen erzählen mir meiner Erfahrung nach
stets schon einige, daß sie das vom Heidenröslein ganz auswendig
wissen.

Soll das Gedicht „einstudiert" werden, so ist das leicht oder
schwer, je nachdem, ob man schon lange mit der Klasse arbeitet oder
nicht. Jm Anfang, wenn die Kinder noch (von einer andern Klasse
her) den unausstehlichen monotonen Schulton haben, kostet es schreck-
lich viel Mühe, sie zum natürlichen Vortrag zu bringen. Jst aber
dieser Schulton, die Ungeschicktheit und die Schüchternheit überwunden,
so geht es immer leichter und besser.

Es gibt noch Lehrer, die die 5kinder mit Bleistist unterstreichen
lassen, welche Worte „betont" werden sollen. „Sah ein Knab ein
Röslein stehn." Das unterstrichne Wort wird dann von den Kin-
dern besonders krampfhast, mit sichtbarer körperlicher Anstrengung
herausgestoßen, nur härter und lauter gesagt als die andern Worte.
Jn der Angst wird oft ein falsches, nichtunterstrichenes Wort betont:
Röslein aus der Heiden. Mit Kindern, die auf diese Weise verdorben
sind, arbeitet es sich sehr schwer. Sie sind ängstlich und verquält,
denken immer an das Lesebuch, statt an die Sache, haben es verlernt,
natürlich zu reden und tragen vor mit ausgeschaltetem Gefühlsleben.

Die Methode des „Betonens" und Unterstreichens ist noch sehr



62

tluinstwart XVIII,
 
Annotationen