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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 15 (1. Maiheft 1905)
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Stern, Adolf: Schiller im Spiegel des neunzehnten Jahrhunderts
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Avenarius, Ferdinand: Schillers Gedichte und die Phantasie
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0159

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Nicht der Masse qualvoll abgerungen,

Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen,

Steht das Bild vor dem entzückten Blick!

hat bis zum letzten Atemzuge die Aufgabe, eine große Masse zu organi-
sieren, als Glück erachtet und die Macht der Jntuition über die
der Spekulation gesetzt. Man erkennt weder Schiller noch würdigt
man ihn, wenn man hinter ihn zurückgeht. Soll seine sittliche Größe
dem zwanzigsten wie dem neunzehnten Jahrhundert zugute kommen,
so muß auch seine „singuläre Poesie" und ihre vorwärts weisende
innre Macht, die nur Nachwirkung, aber keine falsche Nachahmung
erträgt, zu tieserem Verständnis gebracht und als eines der höchsten
und kostbarsten Güter deutschen Geistes geehrt werden. Adolf Stern

8cbiUe?s Geciiebts unÄ clls

Vor drei Vierteljahren ungefähr (Kw. XVII, G) haben wir uns
an dieser Stelle über dic Beziehungen zwischen Anschaulichkeit und
Gefühl unterhalten. Das ungesähr waren unsre Ergebnisse: Dich-
terische Anschaulichkeit hebt sür die Phantasie des Genießenden die-
jenigen Eindrücke hervor, die am stärksten vom Gesühle des Dichters
betont werden; wir schauen die Welt nach, wie der Dichter sie schaute,
und empfangen so durch Anschaulichkeit die Wirkung seiner Persön-
lichkeit. Dichterische Anschaulichkeit „spezisiziert" also nicht etwa, sie
hat nicht das Mindeste mit dem Beschreiben zu tun, sie bedeutet nicht
etwa genau abgeschilderte Außenlvelt, sie bedeutet lebendig erzeugte
Jnnenwelt. Kunstmittel der verschiedensten Art können einzeln oder
miteinander dichterische Anschaulichkeit erzeugen, Gesichts-, Gehörs-
! und Gesühlsvorstellungen, Wirklichkeitsbilder, Traumgesichte, Assozia-
tionen aller Art, das Musikalische der Wörter, der Rhythmen und
Reime — worauf es anrommt, das ist immer: daß wir mit unsrer
Phantasie die Welt sühlend so nachschauen, wie sie der Dichter sühlend
vor uns schaute.

Denken wir nun an Schiller! Wer von uns hat noch nicht den
Vorwurs gehört: seine Gedichte seien im Grunde Rhetorik, sie hütten
keine Anschaulichkeit? Die den Vorwurs erheben, haben leichtes Spiel,
denn nur selten und zögernd treten auch die entschiedensten Verehrer
Schillers gerade ihm entgegen: die Anschaulichkeit Schillerscher Gedichte
gilt meist auch seinen Bewunderern nicht für stark, sie betonen mehr,
daß die Krast Schillerscher Gedanken über den Mangel hinwegsehen,
daß die Glut Schillerscher Begeisterung ihn nicht sühlen lasse. Nun
ist eines gewiß: Schiller war nicht in dem Sinne wie Goethe ein
Lyriker, eine bestimmte Gattung von Gedichten sehlt bei ihm fast gänz-
lich, die bei jenem herrlich lebt: jene spezifische Lyrik, in der eine
anwachsende Stimmung im Augenblick ihrer höchsten Spannung schier
unbewußt im Selbstgespräche zu tönen beginnt, wie etwa in „Ueber
allen Gipseln ist Ruh" oder in „Wandrers Nachtlied". Es sind Werte
anderer Art, die uns Schiller gibt, es sind, um in seiner Sprache
zu reden, weniger naive, mehr „sentimentalische" Werte; die edelsten
Blüten der Lyrik zu pflücken, war ihm versagt. Hätten die aber



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'tlunstwart XVIII, so !
 
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