Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

DOI Heft:
Heft 20 (2. Juliheft 1905)
DOI Artikel:
Krug, Wilhelm Walther: "Christliche Literatur"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0453

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Cbrisltteke ^iteralur"

Das Thema ist heikel, weil es sehr vielen nicht eingehen wird,
daß man die religiöse Literatur vom literarischen, d. h. ästhetischen
Gesichtspunkt aus betrachten kann. Freilich — den Kunstwartlesern ist
dieser Gesichtspunkt geläufig; man wird, wie es im Ratgeber heißt,
„auf diesem persönlichsten aller Gebiete für eine jede Richtung ihre
Voraussetzungen einfach hinzunehmen und nur innerhalb dieser Gren-
zen zu untersuchen haben, inwiefern ihr Niederschlag als Literatur
der höchsten ästhetischen Anforderung genügt: echter und klarer
Ausdruck dessen zu sein, was sich in ihm auszudrücken vor-
gibt." Aber so einleuchtend es ist, daß wir das Recht haben, nicht nur
Romane, Novellen, Erzühlungen, sondern auch die ganze Erbauungs-
literatur, Predigten, Spruchsammlungen, Texterklärungen, überhaupt
Schristen jeder Art innerhalb der religiösen Gattung auf ihre ästhe-
tischen Werte hin in solchem Sinne zu untersuchen, so sehr wird
uns dies von hundert Seiten bestritten werden.

Die Gründe hierfür liegen nahe. Es handelt sich, wenn man den
Stoff betrachtet, um ein Allgemeinstes: um Gott, Seele, Unsterb-
lichkeit, ewiges Leben. Angesichts eines Allgemeinen aber objektiv zu
sein, prüfend fich zu verhalten, ist den meisten Menschen fast versagt.
Ein jeder umarmt brüderlich einen jeden, der gleiche Ansichten be-
kundet, ohne etwa zu fragen: ist es echt, was jener sagt? Warum
sagt er's? Meint er's auch so? Oder vielleicht: Trotzdem er das
gleiche denkt wie ich, paßt er zu mir? Und diese allzumenschliche
Vertrauensseligkeit ist natürlich nirgends so groß, wie dort, wo ein
Glaube als ein objektiv Wahres, von Gott Geoffenbartes hingenommen
wird; denn hier ist alles beherrscht und durchdrungen von dem großen
historisch-göttlichen Hintergrund. Ein „Gläubiger" neigt dazu, in
jedem, der sich „fromm" betätigt, einen „Gläubigen" zu sehen. Die
Tat trägt die Vermutung der Gesinnung in sich. Aber auch umge-
kehrt — und das ist für uns das Wichtigere —: man nimmt die
Gesinnung, den Willen so an, als liege darin alles (sofern nur irgend
etwas geschieht). Man geht z. B. zu einem Pastor in die Kirche, der
die und die Gesinnung hat, beispielsweise „gläubig" ist, und nimmt
dabei gern in Kauf, daß er herzlich schlecht predigt. Oder: man liest
die Bücher, die ein Pastor empfohlen hat, mögen sie auch herzlich
schlecht geschrieben sein. Das weiß jeder aus eigener Erfahrung und
ich brauch' es nicht weiter auszuführen.

Die Folgen dieser Kritiklosigkeit sind aber viel tranriger, als den
meisten je bewußt wird. Jch kenne tatsächlich unter den literarischen

2. ^uliheft 389
 
Annotationen