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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1905)
DOI Artikel:
Hagemann, Carl: Aufgaben des modernen Theaters, 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0519

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Uufgaben äe8 rnociernen Hkea1er8 i

Die großen Denker nnd Künstler aller Zeiten nnd Völker,
vor allem die großen Künstler und unter ihnen wieder ganz be-
sonders die großen Dichter, haben als Grundthema ihres Schasfens
und Wirkens in erster Reihe die Frage zu beantworten gesucht: wie
befreie ich mich und damit auch alle die, die meine Werke genießen, von
dem Banne der Alltäglichkeit? Wie lasse ich am leichtesten, sichersten
und vollständigsten die erdgeborenen Zugaben des Seins zurück und
wie verschasfe ich mir ein von alledem geklärtes, idcaleres Daseins-
gefühl? Wie kann ich das Dasein adeln im Sinne einer höheren
allgemeinen Sittlichkeit?

Auf ganz verschiedenen Wegen glauben die verschiedenen füh-
renden Geister ihr Ziel zu erreicben. Nur wenige Beispiele: Tolstoi
versucht es durch eine Abtötung des Trieblebens und durch eine
daraus gegründete resignierende Ethik. Maeterlinck empsiehlt nach
dem Beispiele der alten Mystiker, sich in die eigene Seele zu ver-
senken und hier Zwiesprache mit Gott zu halten. Zola hingegen
will die Blicke der Menschen auf die Wirklichkeit hinlenken. Er
schildert das Leben ab, indem er von Mal zu Mal gleichsam aus-
ruft: Seht her, so ist es! Dagegen hilft nichts! Nach Jbsen wird
nur, nur durch Wahrhastigkeit im Verkehr der Menschen miteinander
eine neue menschliche Gemeinschaft begründet. Er steht hier im
strengsten Gegensatze zu Oskar Wilde, dem gerade das Künstliche,
dem Künstlichkeit im Leben, Denken und Fühlen das Wünschenswerte
ist. Von allen am weitesten und tiefsten aber ging Richard Wagner,
der die große, die nationale Kunst als hehrsten Erlösungs-
faktor pries: Durch Kunst zum Leben, zu einem höheren, würdigen,
menschenwürdigen Leben — diese Forderung predigte er immer
wieder. Nur von einem reineren, ausrichtigeren Verhültnis des
Menschen zur Kunst als zu den Jdealen des Lebens erhoffte er das
Ziel für die Zukunft.

Und ein Kunstzweig war es üabei nun vor allem, der ihm für
diese Ausgabe so recht passend erschien: das Theater.

Das Theater bedeutete ihm die höchste und weiteste Macht-
sphäre des schaffenden Künstlers. Es könnte sie wenigstens be-
deuten. Hier, wo sich so ziemlich alle Kunstzweige zu einem weit-
schichtigen, aber einheitsvollen Ganzen mitgestaltend betätigen —
wo jahrein, jahraus Hunderttausende und Aberhunderttausende !
Erbauung, Genuß, Anregung und Zerstreuung suchen — suchen,
ohne dies aber zu finden, wenigstens ohne es solgerichtig und rest-
los zu finden. Das Theater könnte ja noch ganz andere ästhetische
Werte schasfen, als es heute gemeinhin zu tun Pflegt, wenn nur
die meist schlummernden Kräste geweckt und dann zu einem großen
künstlerischen Organismus gebändigt würden — wenn man im Publi-
kum nur wüßte, was die Schaubühne, was die deutsche Schaubühne
Richard Wagners sein könnte. Man braucht ja nur „zu wollen" und
„man hätte eine Kunst": dort oben auf den Brettern und im
Direktionsbureau — unten im Parterre und in den Zeitungs-
Redaktionen. Die Liebe, die Schwärmerei für die öfsentliche Schau-

j. Augustheft GOö
 
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