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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 17 (1. Juniheft 1905)
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Halm, August Otto: Bruckner als Melodiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0290

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dieselben Eigenschaften bewahren einen Bruckner davor, „Mode" zu werden.
Sie sichern dagegen seinen Werken die Erhaltung der Kraft, die ihnen
auch dann noch nngemindert entströmen wird, wenn ihre Art der Aeuße-
rung weniger auffällt als jetzt. Ja, dann vielleicht erst in vollem Maße!
Wie es nämlich täuschende Werke geistreicher Autoren gibt, die in der Ueber-
raschung ihre Hauptwirknng haben und mit der Gewöhnung mehr und
mehr aufhören zu interessieren, so gibt es andere, deren eigentliche Be-
deutung sich erst dem erschließt, der sich an ihre Form gewöhnt hat.
An der Hand einiger Beispiele möchten wir die melodische Kunst dieses
Meisters betrachten.

Wir beginnen mit einer Melodie, die zur zweiten Hauptgruppe im
Allegro der L-ckur-Symphonie gehört. Jhrem Eintritt geht die Begleitung
voraus, geheimnisvolle Pizzikato-Akkorde des Streichorchesters; an sich schon
von Bedeutung, bereiten sie zugleich vor, erwecken Spannung auf ein Kom-
mendes. Jhre Feierlichkeit gemahnt an die alte Kirchenmusik. Jm neunten
Takt setzt die Melodie ein; in ruhiger Gemessenheit steigt sie stufenweise
von e, der Quinte des L-moll-Akkords nach ss, der Qninte von ^s-änr. Die
Ruhe war aber nur verhaltene Bewegung: ein plötzlicher Sprung nach eos
aufwärts, der stufenweise Fall in Verbindung mit den Synkopen läßt uns
das Hervorbrechen einer leidenschaftlichen Klage mitfühlen. Das Pianis-
simo raubt ihr zwar die Wucht, nicht aber die Kraft: im Gegenteil, der
Wille, sie zu unterdrücken, macht sie nur ergreifender. Der Nachsatz bringt
denselben Sprung von ss nach oos (Takt W, welchem ein ähnliches Fallen
des Melos folgt, aber mit Verschiebung des Rhythmus und des Vorhalts,
und mit Verändcrung de^- Charakters ins Ruhigere. Das pooo rullsntuuäo
ergibt sich notwendig aus dem Vorhergehenden, wie denn überhaupt bei
Bruckner die dynamischen und agogischen Bewegungen, Akzente und Schat-
tierungen nicht „aufgesetzt" sind, sondern in der Musik selbst liegen. Daß
dieser Nachsatz an das Motiv mit dem Triller anknüpft, welches kadenz-
artig den ersten Abschnitt beschloß, ist ein Zeichen seinsten Formsinnes:
die Wiederausnahme nimmt den Pausen die trennende und läßt ihnen nur
die gliedernde Bedeutung; man hält sozusagen den Atem über sie hinüber
an. Die Antwort (Takt (7 u. ff.) bringt zunächst die wörtliche Wiederholung
des Vordersatzes auf der nächsthöheren Stufe, dadurch eindringlicher; statt
des pp haben die Synkopen ein äiiräuusnäo. Der Nachsatz hebt sich dadurch
noch mehr ab. Die Einsätze auf dem Sextintervall (Takt 22 u. 2H) offenbaren
wieder starkes Gefühl, welches jetzt statt des verhaltenen Ausbruchs sich
in ruhigerem Strom von wachsender Stärke ergießt. Der vielsagende chro-
matische Gang abwärts mischt sehnende Wehmut darein. Das erssesuäo
motiviert die folgende Erhebung (aus ei8); aber der innere Widerspruch dieser
Stelle läßt ebenso das Ende des Aufschwungs ahnen: die Welle bricht sich
plötzlich bei der Trillerfigur, in deren unmittelbarer Wiederholung (pp)
die Bewegung erlischt. Nach einer Pause, deren Zäsurkraft durch die ver-
änderte Lage und Klangfarbe des solgenden Einsatzes, durch das Lnllsu-
tuuäo, durch den Tonartwechsel, endlich durch die Kunst der Jnstrumen-
tation verstärkt wird, bringen die melodieführenden Violinen einen lang-
gehaltenen und wiederholten Ton, der halb schon wie aus einer diesem
Sehnen und Drängen fremderen Welt erklingt. Heraus wächst eine kurze, auf
I)68-äur abschließende Kadenz, deren absteigende Viertel an die thematischen
Abwärtsbewegungen erinnert. Jm einfachen Or6866uäo und Oserssssuäo

24^ Runstwart XVIII, j7
 
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