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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 19 (1. Juliheft 1905)
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Grunsky, Karl: Natur und Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0394

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die Einsamkeit der Natur. Auf sie mag man das Andante des be-
rühmten 6-äur-Qnartetts beziehen, während sein Geschwister, das
Adagio des Quartetts in L8-äur, mit seinen Tristanklängen unver-
kennbar dem Sehnen der innersten Brust entströmt. Bach hat beson-
ders in seinen Kantaten ein Naturgefühl geosfenbart, das ihn als
Meister, nicht als Kind seiner Zeit verrät. Jm Liede haben Schubert
und Schumann leuchtende Beispiele, jener eines mehr unpersönlichen,
dieser eines stark persönlichen Naturgefühls geschasfen. Allerdings
ist das Lied nach ihnen zum übervollen Tummelplatz von Natur-
schildereien geworden. Man erkennt ihren Gehalt am schnellsten,
indem man sich die Musik ohne den Text anhört; dies ist über-
haupt das sicherste Mittel, den Wert einer Tondichtung sestzustellen,
die ein überschriebenes Programm oder das Programm eines sort-
laufenden Textes enthält. Wenn es den Anschein hat, als seien Natur-
stimmungen in der Musik ohne Programm oder Text viel seltener,
so rührt dies daher, daß der Ausdruck in jeder Art von Vokalmusik
durchs Wort häufig erzwungen oder erschmuggelt wird.

Viele werden vielleicht bezweiseln, ob der Musik das glückliche
Vermögen eigne, uns ihre Absichten unzweideutig kundzutun. Lasse
man Text oder Programm beiseite, so denke der eine, von der leben-
digen Natur Erfüllte, an die Gleichnisse seines Umkreises, ein anderer,
nicht so vertraut mit der Natur, übersetze sich die Tonsprache ins
Geistige. Wenn wir diesem Einwande nachgehen, so finden wir aller-
dings, daß die Musik nicht ein Ziel, sondern nur die Bewegung auf
ein Ziel ausdrückt. Anderseits ist eine Bewegung doch vom Ziel
abhängig, von der Richtung aufs Ziel bestimmt. Den Gegenstand
einer Sehnsucht wird der Tondichter schwerlich abzeichnen, wohl aber
die Art der Sehnsucht malen, und diese Art richtet sich immerhin
nach dem Ziel, das dem Künstler vorschwebt. Man wollte über die
geringen Fähigkeiten der Tonkunst schon triumphieren, als man be-
merkte, daß sie nicht imstande sei, das herrliche Grün des Waldes
zu schildern, die Form einer Tanne oder einer Buche darzustellen.
Wer den Natursinn in der Musik durch kindliche Spielereien, scherz-
haste Rätsel betätigen wollte oder betätigt glaubte, wurde mit über-
legener Miene des Jrrtums geziehen.

Ein anderer Sinn und Geist ist es, in dem sich Natur und
Tonkunst begegnen und lieben. Den innern Bewegungen der Natur
trachtet die Musik Gestalt zu geben; wenn sich die Malerei ans
Aeußere gebunden findet, dringt die Musik tieser ins Wesen der
Erscheinungen hinab, bis zu den gemeinsamen Wurzeln der bunten
Lebenssülle um uns. Musik verbindet die Dinge mit andern Fäden,
ihre Netze sind ein anderes Gespinst als das der Sprache. Vor
allem gehören wir selber auch zur Natur und wir dürfen uns nicht
wundern, daß die Tonkunst das uralte Wort: „Das bist du" tausend-
fach erhärtet.

Natur und Musik! Wir gedenken fast ausschließlich der Natur
als des großen Gegensatzes zum menschlichen Jnnenleben. Aber die
Natur in uns ist ja auch Natur, und es gibt Gleichnisse der Außen-
und Jnnenwelt, die von der Tonkunst ergreisend gepredigt werden.
Bietet nicht manches Ungewitter der Elemente ein wundersames Ab-



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