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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1905)
DOI Artikel:
Ratzel, Friedrich: "Ueber Naturschilderung"
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0405

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war nicht bloß vermenschlicht bis auf den letzten Stein, sondern ver-
göttlicht. Denken wir an Holland, wo der Boden selbst eine Ge-
schichte hat, die mit der seines Volkes an Bewegtheit wetteifert, und
beide aufs engste verschlungen und miteinander endlich noch künst-
lerisch verklärt sind.

Es sind wesentlich diese Beziehungen, die den landschaftlichen
Geschmack in verschiedenen Zeiten so verschieden gestaltet haben; denn
jede Zeit legte ihre Empsindungen in die Natur. Wer möchte heute
Graburnen in jeder Ecke eines Parkes, wer von künstlichen Ruinen
die Berggipfel gekrönt sehen? Welchen Landschafter drängte es heute,
seltene Prachtexemplare von Platanen oder Steineichen in heroische
Landschaften zu stellen? Auch die Begeisterung für wirkliche Ruinen
ist mit der ganzen romantischen Stimmung zusammengeschwunden.
Dahin gehört auch der idyllische Charakter des Naturgefühls der
Alten und der Schäserdichter der Renaissance. Eines Tages, wenn
man z. B. mühelose Fernblicke von Luftschisfen aus genießt, wird
man vielleicht dazu auch die jetzt noch so einseitige Vorliebe sür
das Hochgebirge rechnen, die die Landschastsmalerei schon aufge-
geben hat.

Bleiben werden natürlich immer jene Verbindungen, welche
die großen und notwendigen Züge alles Lebens und alles Geschehens
miteinander in Verbindung setzen. So wie der Vergleich des Blut-
kreislaufsystems des Menschen mit einem vielverzweigten Baume in
der Uebereinstimmung des organischen Wachstumes beider liegt, so
liegt der Gedanke an unser eigenes Altern und Sterben angesichts
der fallenden Blätter in jedem Herbst uns so nahe, wie er einst dem
Homer lag. Er kann nicht veralten und wird künstigen Geschlechtern
stets ebenso nahe liegen wie den heutigen.

(Das Schauen)

Das Schauen der Naturdinge nenne ich die seelische Konzen-
tration auf den Sehprozeß. Nahverwandt dem künstlerischen Erfassen
und dem dichterischen Sehen, die Gesehenes in jedem Augenblicke
gedanklich beseelen, reicht es weit über das Sehen, das außen bleibt,
und über die Beobachtung hinaus, die Einzelheiten wahrnimmt: es
dringt in den Kern ein, ahnt die Seele der Sache, vernimmt ab-
gebrochene Laute, sieht undeutliche Lichter, Umrisse, die nicht genau
die der natürlichen Existenz sind. Daraus schöpst der Schauende
den Grundgedanken oder das Leitmotiv. So wie Kräfte in be-
stimmter Aeußerung diese Erscheinung durchwalten, so muß dieser
Gedanke die Schilderung durchziehen und beherrschen. Wir vernahmen
ihn kaum, so spricht es in uns: hier ist das lösende Wort. Aus der
einen Seite ist dieses Schauen ein großes, einsaches Umfassen des
Ganzen, auf der andern ein unbewußt kritisches Wählen unter den
Einzelzügen, das den bevorzugt, der am unmittelbarsten der Aus-
sprache des Wesens der Erscheinung dient. Wir haben wohl auch den
Eindruck, daß der Schauende hinter jedem Dinge etwas sieht, das
gewöhnliche Sterbliche nicht sehen, etwas, was größer, allgemeiner,
geistiger ist. Solches Schauen ist nun nicht bloß eine genmle Gabe,
sondern auch eine durch Gewohnheit erworbene Fähigkeit des raschesten

! 3^8 Runstwart XVIII, (y
 
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