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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 22 (2. Augustheft 1905)
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Moeller van den Bruck, Arthur: Die Überschätzung französischer Kunst in Deutschland
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0579

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scheint geniale literarische Begabungen überhaupt nicht mehr entwickeln
zu können. Das Genie braucht große Gegensätze — und das Leben des
französischen Volkes hat heute nur die eine Tendenz, alle Gegensätze
des inneren wie üußeren Seins möglichst auszumerzen, in einem in
all seiner Freiheit und Ungebundenheit sicherlich liebenswürdigen, aber
unter allen Umständen wohl proportionierten und deshalb stark charak-
terlosen Leben. Dabei gibt man uns in Deutschland, wo wir selber
dabei sind, unserer Sprache die letzten Reste von Barbarentum zu
entreißen, die ihr noch anhaften mögen, noch nicht einmal diese ver-
hältnismüßig seine Literatur Frankreichs, die uns gewiß kein Vorbild,
aber doch ein Beispiel sein könnte. Nur hin und wieder, in Zeit-
schriften für kleine Feinschmeckerkreise wie dem „Pan" und der „Jnsel",
haben Uebersetzungen aus den besseren zeitgenössischen Franzosen —
meist Vlämen — gestanden. Was man dagegen dem deutschen Volke
in Mengen vorsetzt, das ist die banale französische Publikumskost, von
Leuten hervorgebracht, die den Ehrgeiz längst aufgegeben oder nie
besessen haben, wenigstens den traditionellen französischen Geschmack
noch immer weiter zu steigern. Was man uns in Deutschland gibt,
das ist vielmehr die französische Vertrivialisierung dieses Geschmackes:
das sind alle jene Romane und Dramen, die, ob sie nun von Prevost,
oder von Brieux, Capus oder Donnay herrühren, doch nur dem ent-
sprechen, was wir mit den Sudermann, Otto Ernst und Max Dreyer
in Deutschland zur Uebergenüge selbst haben — maskierte Erben der
de Kock und Ohnet in Frankreich, der Kotzebue, wenn nicht Marlitt
in Deutschland. Von der französischen Literatur überhaupt zu
schweigen, die sich ganz schamlos als das gibt, was sie ist, wie es
in Deutschland etwa die Literatur der Blumenthal tut, von der „vams
äs 6Ü62 Naxim" etwa und anderem Tantiemengeschreibsel, und die
dann nur den einen Vorzug hat, dem literarisch-schamlosen Teile des
Volkes wenigstens offen zu entsprechen, während jene andere die-
selbe Absicht mit allerhand literarischen Allüren zu verhüllen sucht.

Jn der Musik ist es ühnlich — nur, da die französische Musik an
sich schon nicht gegen die deutschen Anforderungen an Tonkunst an-
kommen kann, weniger verhängnisvoll. Aber auch hier spielt man
uns mit besonderer Vorliebe die trivialen, wenn auch echt pariserischen
Opern der Massenet, Delibes, Charpentier und anderer, indes die
einsichtigeren Franzosen ihrerseits erst — bei Richard Wagner ange-
langt sind.

Ueberhaupt haben die Franzosen einen viel feineren Sinn für
das, was ihnen das Ausland bieten kann, als wir. Sie sperren sich
eher gegen das Ausland ab, als daß sie Werte des Auslandes in
Ueberzahl aufnähmen. Das hat ihnen dann allerdings den Vorwurf von
der „chinesischen Mauer" eingebracht, die um Frankreich und besonders
Paris gezogen sei. Mit Recht. Aber anderseits ist auch nicht zu leugnen,
daß diese Mauer für die Franzosen nicht bloß Nachteile hatte. Sie
sind durch sie immer nur zu dem wirklich Wichtigen anderer Völker
gelangt. Um als Beispiel die deutsche Literatur anzuführen: wie lang-
sam sind sie zuerst zu Schopenhauer und jetzt zu Nietzsche gekommen,
den sie freilich nicht verstehen, aber doch kennen lernen, während sie
von deutschen Dichtern der Gegenwart höchstens Hauptmann kennen!


2. Augustheft sy05

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