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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 24 (2. Septemberheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0708

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Sv verstand sie sich dazu, das gleiche Kleid zu tragen, wie die anderen
Nonnen.

*

Jn einem leeren Hof, wo früher ein großer Tempel Amida-ji gestanden
hatte, erbauten sie eine kleine Andera, oder Nonnentempel, sür sie und
nannten ihn auch Amida-ji und weihten ihn Amida-Nyorai und anderen
Buddhas. Man schmückte den Tempel mit einem sehr kleinen Altar und
diminutiven Gerätschaften. Es war darin ein sehr niedliches Exemplar
der Sutra auf einem Miniaturlesepult und winzige Wandschirme und Glocken
und Kakemonos. Und dort lebte O-Toyo lange noch, nachdem ihre Elteru
gestorbeu waren. Die Leute nannten sie Amida-ji-no Bikuni, was „die
Nonne des Tempels von Amida" bedeutet.

Gerade vor dem Tor des Tempels stand eine Jizostatue. Aber dieser
Jizo hatte eine besondere Ausgabe. Er war der Freund der kranken Kinder.
Man sah fast immer kleine Reiskucheu vor ihm aufgestapelt. Dies be-
deutete, daß man ihn für irgendein krankes Kind anflehte, und die Anzahl
der Reiskucheu bedeutete die Anzahl der Jahre des kranken Kindes. Meistens
lageu nur zwei oder drei Kuchen da, nur selten sieben bis zehn. Die Amida-ji
Bikuni trug Sorge für die Statue, entzündete Weihrauch davor und schmückte
sie mit Blumen aus dem Tempelgarten, deun hinter dem Tempel war
ein kleines Gärtchen.

Nachdem sie ihre Morgenrunde mit ihrem kleinen Almosenschüsselchen
gemacht hatte, Pflegte sie sich gewöhnlich an einen winzigen Webstuhl zu
setzen und Stoffe zu weben, die für den wirklichen Gebrauch viel zu schmal
waren. Aber die Gewebe wurden immer von gewisseu Ladenbesitzern auf-
gekauft, die O-Toyos Geschichte kannten. Sie schenkten ihr dafür kleine
Täßchen, Blumenschälchen und drollige Zwergbäumchen sür ihr Gärtchen.

Jhre größte Freude war die Gesellschaft von Kindern, und daran fehlte
es ihr nie. Die japanischen Kinder bringen die meiste Zeit in den Tempel-
höfen zu. Und viele glückliche Kindheitsjahre wurden im Tempel der Amida-ji
zugebracht. Alle Mütter der Straße sahen es gern, wenn ihre Kinder sich
dort aufhielten und schärften ihnen ein, ja niemals die Bikuni-San aus-
zulachen. . . . „Jhre Art ist manchmal wunderlich," pflegten sie zu sagen,
„aber das kommt daher, weil sie einmal ein kleines Söhnchen hatte, das
gestorben ist, und der Schmerz darüber war zu groß für ihr Mutterherz;
darum müßt ihr sehr artig und ehrfurchtsvoll gegen sie sein."

Artig, das waren sie wohl, aber nicht ganz respektvoll im gewöhn-
lichen Sinne. Sie fühlten besser, worauf es hier ankomme. Sie nannten
sie „Bikuni-San" und grüßten sie sreundlich, aber im übrigen behandelten
sie sie ganz wie ihresgleichen. Sie spielten Spiele mit ihr, und sie gab
ihnen Tee in ganz winzigen Täßchen und bereitete für sie Reiskuchen,
die nicht viel größer waren als Erbsen, und webte auf ihrem Webstuhl
Baumwolle und Seidenzeug für Kleidchen für ihre Puppen.

So wurde sie für die Kleinen ganz wie eine Schwester.

Sie spielten täglich mit ihr, bis sie zu erwachsen wurden, um zu
spielen, und den Tempelhof von Amida verließen, um die bittere Arbeit
des Lebens zu beginnen und Väter und Mütter von Kindern zu werden,
die sie an ihrer Statt in den Tempelhof spielen schickten. Diese Kinder
gewannen die Bikuni-San lieb, ebenso wie ihre Eltern es getan.

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