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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1906)
DOI Artikel:
Batka, Richard: Das Leitmotiv
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0033

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motivs hinzuweisen. In der Musik freilich läßt sich Form nnd Inhalt,
Kern und Schale so wenig trennen wie in der Natur. Sondern
„beides ist sie mit einem Male". Ein rechtschaffenes Leitmotiv darf
auch keine starre Maske sein, sondern muß einem lebendigen Antlitz
gleichen, das einen bestimmten Ansdruck hat, aber dabei doch auch die
verschiedensten Stimmungen und Empfindungen annehmen kann.
Dieses psychische Leben ist es, was uns einen Kopf und ein Motiv
erst interessant macht. Wenige Züge, wenige Harmonien und rythmische
Verschiebnngen verändern oft das ganze Seelenbild. Wenn der kecke
Iunker

seine Prüfung vor den „Meistersingern" bestehen soll und ihm recht
schwummerig zu Mute ist, so drückt die Variante

unübertrefflich aus, was in ihm vorgeht; jeder, der selbst einmal
Kandidat gewesen ist, wird ihm diese klägliche Verstörung seines inneren
Wesens nachfühlen. Aus diese „psychologische Variation" der
Motive zu achten, ist natürlich viel wichtiger und bedeutet eine viel
höhere Stufe künstlerischen Genießens als das Erkennen und symbolische
Beziehen der Hauptmotive beim jedesmaligen Auftauchen, aus die sich das
„Verständnis" motivischer Musik bei einem großen Teil des Publikums
beschränkt. Man sollte jedes Motiv nicht als eine Formel, sondern
als ein lebendiges Geschöpf betrachten, das weint und lacht, das rennt
und ruht, das schläft und schwärmt. In solchem Lichte gesehen, wäre
jedes Tonstück eine Biographie der darin enthaltenen Motive.

Freilich will mir scheinen, daß manche Opern-Komponisten das
gnte Prinzip jetzt übertreiben, indem sie, um nur ja die motivische
Einheit zu wahren, ihm einen Ausdruck abfordern, der gar nicht mehr
darin liegt. Denn diese Ausdrucksfähigkeit nach allen Seiten hin hat
ihre Grenzen, und wo die Grenzen überschritten werden, merkt man
sogleich die Differenz zwischen Wirkung und Absicht. Die letzte Stafsel
des Verständnisses wird aber erst dort erreicht, wo mit der poetischen
und psychologischen Erkenntnis sich auch die Linsicht verbindet, wie
das aus dem dichterischen Gedanken heraus geschasfene Motiv als
Baustein für die symphonische Grundlage der Musik verwendet
wird. Die musikalische Architektnr einer Szene und ihre Begründung
im dramatischen Verlanf wahrzunehmen — erst das erschließt uns das
künstlerische Geheimnis der Komposition einer modernen Oper.

Prag Richard Batka

j. Oktoberheft jIOS

t9
 
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