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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,1.1907

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Heft 12 (2. Märzheft 1907)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8627#0878

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am Meere reden«, heißt es im
„Wilhelm Meister".

Gnt, daß ich hier der Lheater-
Baumeister nicht bin!

Aber sind wir nicht alle ebenso
dem Urteile der Menschen unter-
worfen?

Anfangs dachte ich brav und
strebsam, man müsse auf die Ladler
hören: entweder verstünden sie es
besser als ich, oder entdeckten mir
doch die schwachen Stellen, wo ich
nachzuhelfen hätte. „Zeigt mir der
Freund, was ich kann, lehrt mich
der Feind, was ich soll." Später
wurde ich bequemer: Was gehen
mich die Andersdenkenden, Anders-
artigen an! Ich kann es doch nur
den mir Verwandten recht machen,
und nur meine Freunde und Lo-
ber geben mir, was ich zum Leben
brauche.

Aber wenn ich aus meinem Fen-
ster auf den Platz blicke, sehe ich
ein bedeutsames Schauspiel: die
Leute stehen immer einzeln und in
Gruppen da, alle zehn Minuten je-
doch sind es andere Gruppen und
Haufen und andre Linzelne. Bestän-
dig zerrinnt das Menschenvolk unter
meinen Augen und beständig sam-
melt es sich neu. So zerrinnen
für jeden von uns unsre Tadler
und unsre Lober und sammeln sich
neu, bis der Platz vor dem Fen-
ster, aus dem wir herausschauen,
leer wird.

Ich trete wieder vor die weißen
Blätter auf meinem Pult und sage
vor mich hin: Auf wen hören?

„Auf mich!« antwortet ein
Stimmchen vor mir.

„Auf wen?«

„Auf das Gesetz!«

„Bist du ein Gesetz, du feines
Stimmchen? Wo steckst du denn,
du niedliches Gesetz?«

»Hier drin!« antwortet es. Ganz
gewiß aus den Papieren heraus!

And mit einem Male verstehe ich,
was die Stimme mir sagen will.
Nicht nur in den wandelnden Ge-
stalten draußen stecken Geister, son-
dern überall. In meiner Stube
hocken sie auf allen Bücherhaufen
und passen mir auf. Auch mein
Zweck ist so ein Geist; er spricht zu
mir, wenn ich nur ruhig genug bin
und eine Weile geduldig lausche.
And was er für einen Willen hat!
In dem Stoffe, mit dem ich jetzt
ringe, regt sich ein anderer Geist:
ansangs lallte er unverständlich wie
ein Kindchen, bald sprach er wie
ein Knabe, ein Iüngling, jetzt ist
er ein starker Mann; immer for-
dert er, berät er, belehrt er; zu-
weilen, wenn ich weggehen möchte,
packt er mich bei Kopf und Armen,
und das Losreißen ist schwer. And
wenn ich in der rechten Stunde
ans Fenster trete und über die
Menschen hinwegschaue, so sehe ich
nicht die Gruppen und Einzelnen,
sondern sehe ihre Gesamtheit, ihre
Menschheit, und aus diesem schat-
tenhaften Körper haucht eine
Stimme mir zu und verrät, was
der Mensch auf die Dauer bedarf,
genießt, erträgt und was ihn nur
eine zeitlang reizt und lockt. Rnd
wenn diese Geisterstimmen zusam-
men singen und sagen, dann klingt
es leise oder laut, je nachdem unser
Geist ihnen fern oder nahe ist.
Und was da klingt, das ist das
Gesetz, das den Werken eingeborene
Gesetz. A.nd wer das Gesetz hört,
fühlt zugleich: Willkür ist Sünde,
Sünde ist Willkür, Gehorsam ist
Kraft, Hingebung ist Gewinn.

Ia, steht und geht, ihr Men-
schen auf dem Platze! Macht Paare,
Gruppen und Haufen! Und rinnt
wieder auseinander! Nedet und
meint! Andern Geistern, als die
in euch wohnen, muß lauschen, wer
Dauerhaftes schaffen will.

W Bode

Kunstwart XX, ^2
 
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