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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 4 (2. Novemberheft 1893)
DOI Artikel:
Lange, Konrad von: Über malerische Ausführung
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0060

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schwommene Bilder. Linien z. B., die wir nicht genan
fixiren, sehen wir doppelt, indem wir die beiden Bilver,
die sie auf unseren Netzhäuten hervorrufen, durch den
Sehprozeß nicht zu einem verschmelzen. Nun könnte man
allerdings einwenden, daß dasselbe ja auch für die Be-
trachtung der Zeichnung gilt, indem wir ja auch bei ihr immer
nur einen Punkt oder eine Linie schars fipireu, so daß also
alle anderen schon von selbst vor unserem Blick verschwimmeu
würden, auch wenn wir sie ebenso genau ausführten wie
jene. Aber bei diesem Einwand hat man eines nicht
bedacht. Die Malerei, indem sie runde Formen in die
Fläche übersetzt, hat die Ausgabe, durch alle Mittel, die
ihr zu Gebote stehen, den plastischeu Eindruck der Natur
hervorzurufen. Eines ihrer wichtigsten Mittel ist dabei
das, daß sie gewisse Eindrücke der Natur, die sich aus der
plastischen Eigenschaft der gesehenen Gegenstände d. h.
unserem zweiäugigen Sehen derselben ergeben, bei der
Übertragung auf die Fläche übertreibt, gewissermaßeu
karikirt. So wird sie z. B. in diesem Falle den Unter-
schied in der Deutlichkeit der einzelnen Gegenstände in der
Weise übertreiben, daß sie Einzelnes ziemlich genau, Anderes
zieinlich skizzenhast aussührt. Sie kommt dadurch dem
Sehprozeß des Beschauers gewissermaßen entgegeu, zwingt
ihn wie in der Natur einen Gegenstand zu fipiren, die
übrigen dagegen in einer gewissen verschwommenen Un-
klarheit zu seheu. Und in dieser Weise kann sie thatsächlich
die räumliche Jllusion in höherem Grade erzeugen, als
durch eiue ganz gleichmäßige Ausführung des Bildes. Nur
so kann ich mir die Thatsache erklären, daß z. B. Lenbach
bei seinen Bildnissen nur das Gesicht, insbesondere die
Augen, genau aussührt, Hände und Gewandung dagegen
vernachlässigt.

Aber selbst die einzelne grade Linie, die wir in der
Natur sixiren, stellt sich uns thatsächlich nicht als mathe-
matisch grade Linie dar. Denn streng genommen können
wir immer nur einen Punkt derselben genau sipiren, alle
anderen Teile der Linie nehmen sich aus unserer Netzhaut
ähnlich aus, wie die übrigen dem Zentrum der Aufmerk-
samkeit entrückten Gegenstände. Also ist die Thatsache der
genaueu Fixirung in Wirklichkeit nur in der Theorie vor-
handen, für den Maler dagegen praktisch ohne jede Be-
deutung.

Dazu kommt noch ein zweites, nämlich die Jrradiation.
Unter Jrradiation versteht man bekanntlich die Erscheinung,
daß die Lichteindrücke, die wir von den Gegenständen der
Natur erhalten, sich sür unsere Empsindung in Folge
gewisser Eigentümlichkeiten unseres Auges über die Grenze,
die sie an dem Objekt einnehmen, ausdehnen. Danach
erscheint uns z. B. der Mond nicht als fest umgrenzter
Kreis, sondern als Kreis mit verschwimmendem Umriß. Die
Jrradiation findet nun streng genommen bei allen Linien,
die wir in der Natur sehen, statt. Denn Linien entstehen
nur da, wo verschieden farbige oder verschieden beleuchtete

Flächen aneinanderstoßen. Jn einem solchen Falle wird
immer die Hellere Fläche in die benachbarte dunklere über-
strahlen. Am stärksten wird dies natürlich der Fall sein,
wo der Helligkeitskontrast der beiden aneinanderstoßenden
Flächen ein verhältnismäßig großer ist. Es wird aber in
gewissem Maße auch da der Fall sein, wo er geringer ist.
Und die Malerei, die bekanntlich über eine viel beschränktere
STäla von Helligkeitsgraden verfügt als die Natur, wird,
um der Wirkung der Natur wenigstens einigermaßen nahe
zu kommen, diese Eigentümlichkeit, ebenso wie andere Eigen-
tümlichkeiten ihres Objekts, übertreiben, indem sie unter
allen Umständen schon in der bloßen Umrißzeichnung, noch
viel mehr in der schattirten Zeichnung und in der Malerei
den Umriß verschwimmend wiedergiebt.

Was nun die Ausführung größerer Farbenflächen
innerhalb der Umrisse betrifft, so ergiebt sich deren Be-
handlung gewissermaßen von selbst aus der Behandlung
der letzteren. Wenn man nämlich die Umrisse in Gestalt
verschwommener Linien wiedergiebt, so kann man natürlich
die von ihnen begrenzten Flächen nicht in vollkommen
glatter Vertreibung Lehandeln. Dazu kommt, daß that-
sächlich die menschliche Haut aus zahlreichen Farbentöneu
besteht, unter denen die gelben, rvten und blauen eine be-
sondere Rolle spielen. Dieser fleckige Charakter der Haut,
der sich im Einzelnen durch die Lage der Adern, Fett-
teile, Haare usw. bestimmt, zeigt nun allerdings in der
Natnr keinen sehr ausgeprägten Charakter, da die einzelnen
Farbentöne weich ineinander übergehen. Jn der Malerei
aber wird er ebenfalls übertrieben, weil man nur dadurch
der Wirkung der Natur einigermaßen nahe kommen kann.
Es ist eine bekannte Thatsache, daß Farbeutöne umso
leuchtender wirkeu, je mehr man fie aus einzelnen neben-
einander gestellten Farbentönen zu erzeugen sucht. Da nun
die Malerei bei weitem nicht diejenige Leuchtkraft der Farbeu
zur Verfügung hat, wie sie der Natur zu Gebote steht, so
hat sie ein Jnteresse daran, die Töne möglichst ungebrochen
und unvertrieben nebeneinander zu setzen. Der Maler darf
eben die Mischung der Töne nur zum Teil auf der Palette
vornehmen, zum Teil soll er es dem Augc des Beschauers
und dem Medium der Luft überlassen, sie auf der Netz-
haut zu vollzieheu.

Noch ein anderer Punkt verdient ins Auge gefaßt zu
werden. Bekanntlich wird bei der Betrachtung eines Ge-
mäldes ein großer Teil der Jllusion dadurch zerstört, daß
man dasselbe mit zwei Augen betrachtet. Jn der Natur
sehen wir allerdings die Gegenstände mit zwei Augen.
Aber die Folge dieses binokularen Sehens ist, daß wir
gewissermaßen um die Formen herum sehen. Das fällt
besonders bei unregelmäßigen runden Gegenständen, z. B.
Gesichtern oder Köpfen ins Gewicht. Wenn wir in der
Natur ein Gesicht betrachten, so erhalten wir von ihm
streng genommen immer zwei Bilder. Und diese zwei
Bilder, die sich auf nnsre Netzhäute projiziren, sind umso
 
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