Rückstrahlung auf unser Volkslebeu bleiben?! Am um-
fassendstcn jedoch muß naturgemäß dieser kulturelle Einfluß
Goethes in seinen die Herzen besanftigenden und die Sitten
mildernden Liedern sowie in seinen beiden Lebenswerken
„Wilhelm Meister" und „Faust" hervortreten. „Gedenke
zu leben!" tönt die tröstliche Botschast aus Goethes
Meister-Roman, ein Stück Lebenskultur und Bildnngs-
spiegel schließt das Werk in sich, um endlich aus dem
Fahrwasser individuellcr Bildungsversuche in den Strom
deutschen Soziallcbens zu münden. Rein äußerlich gestaltet
sich aus ahnliche Weise der Gedankengang des „Faust",
dieser reinsten Blüte eines originaldeutschen Humanismus:
spiegelt der erste Teil die rein menschlichen Hauptzüge im
deutschen Lebensgang, so verdichtet der zweite Teil die
Jahrhunderte deutscher Kulturentwicklung zu symbolischer
Gestaltung, um gleich „Meisters Wanderjahren" in einer
Prophetie zu gipfeln. Mit voller Klarheit teilt Goethe
an beiden Stellen der deutschen Zukunft sozialpolitische
Aufgaben zu, und wenn er im „Faust" auf innere, im
„Meister" anf äußere Kolonisation verweist, um neuen
Boden urbar zu machen, da der alte nicht mehr zur Er-
nährung hinreicht, ^— so dürfte unser Dichter auch hier
den Aufgaben unserer heutigen Zeit nicht fernstehen.
Zu alledem gesellt sich der reiche, volle Kranz Goethischer
Spruchweisheit, deren Wert unsere Gegenwart in steigendem
Maße erkennt. Weite Streck'en des „Westöstlichen Divans"
gehören hierher, besonders aber die „Sprüche in Bersen"
und „Sprüche in Prosa" aus Goethes Alter. Gewährcn
sie doch ein volles Bild seiner Lebensaufsassung, ein Schatz-
kästlein in allen Lebenslagen zur Verjüngung und Vcredlnng
unseres Volkes. Goethe selbst hält diese Seite seiner
Wirkung mit Recht sür die höchste. An der innern Selbst-
besreiung des Jndividuums von Knechtessinn wie thaten-
loser Vertrauensduselei gearbeitet zu haben, gilt unserm
Dichter als sein eigentlicher Ruhmestitel:
Jhr könnt mir immer ungescheut
Wie Blüchern Denkmal setzen;
Von Franzen hat Er euch befreit,
Jch von Philisternetzen.
Was ist ein Philister?
Ein hohler Darm,
Mit Fnrcht und Hoffnung ausgefüllt,
Daß Gott erbarm!
Bezeichnend genug wirkt Goethe gerade auch nach dieser
Richtung mächtig auf das Ausland, so daß durch dieses
Medium deutscher Geist die Bildung zweier Welten durch-
dringt. So gesteht selbst der Amerikaner Horatio S.
White: „Die Summe indirekter Ausstrahlung, die von
Goethe ausgeht, wird, wie bei andern Autoren, wegen der
Natur des Falles selbst, eine unbekannte Größe bleiben; !
aber unsre frühere und gegenwärtige Literatur ist sehr von
seiner gnomischen Weisheit durchdrungen. Jn dieser Weise
fährt er fort, eine lebendige Macht selbst in unserer Mitte
zu sein."
Mehr jedoch als durch jeden Einzelzweig seiner Thätig-
keit wirkt Goethe auf Jn- und Ausland durch das all-
umfassende Ganze seines Wesens. Daß er Lyriker, Epiker
und Dramatiker, daß er Dichter und Denker, daß er
Künstler und Forscher und bei alledem ein Vollmensch
gewesen, gerade das macht das Großartige seines Wesens
aus. Dem Bildnngsstreben der Neuzeit in der ganzen
zivilisirten Welt ist Goethe dadurch zum unvergleichlichen
Vorbild, zum Muster und Meister geworden, wie er über-
haupt, ein Genius der Menschheit, das moderne Leben
typisch vorbildlich in sich darstellt. Ähnlich bezeugt halb
widerwillig Georg Brandes die letzte und höchste Wirkung
Goethes aus Dänemark: „Uns ist Goethe besonders so
teuer, weil wir die Natur vergöttern . . . Uns ist Goethe
ferner so teuer, weil wir die Kunst anbeten, und Goethe
uns mehr als alle andern der Künstler ist. Er, der als
Morphologe und Anatom sast ausschließlich die Form zu
definiren suchte, und der die Form als Bildung be-
stimmte . . . Wir lernten von ihm, daß wer vor allem
daran arbeitet, sich selbst zu entwickeln, am meisten Aus-
sicht hat, in die allgemeine Entwicklung einzugreifen. Die
Universalität seines Geistes ist und bleibt ein Jdeal, man
freut sich ihrer, ohne sie zn begehren (?!), aber von ihr
haben wir gelernt, im Einzelnen nie das Ganze aus dem
Auge zn verlieren."
Damit ist bereits auf ein Moment des Goethischen
Geisteslebens hingedeutet, welches endgiltig verhütet, daß
die wohlverstandene Goethe-Verehrung der Nachwelt je
verknöchere oder erstarre. Entwicklung ist das große Ge-
heimnis der Goethischen Weltseele. Ein andrer wird der
junge Frankfurter in Leipzig, ein andrer unter den Händen
Herders, ein andrer unter dem Einfluß der Frau von Stein,
neugeboren kehrt er aus Jtalien znrück, in neue Bahnen
zieht ihn Schiller fort, in neue wiederum seine eigenen
romantischen Schüler vom Jn- und Ausland: so wirkt
die Welt aus ihn, so wirkt er aus die Welt in immer
anders gearteten, immer srischen Ansätzen. Darum ist die
Summe seines Wesens nicht ein dogmatisches Prinzip,
sondern ein sließendes, quellendes, sprndelndes Menschen-
leben. Und das ist gerade der unermeßliche Gewinn, den
Gegenwart und Zukunft aus dem Anschauen des Vor-
bildes Goethes ziehen kann: daß wir uns durch Selbst-
erziehung im Strom der Welt zu immer höherer Vollendung
emporbilden.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
> Anf der dunklen Erde.
Auf diesem Spruche ruht Goethes ganzer Geist.
L. M.
^-
fassendstcn jedoch muß naturgemäß dieser kulturelle Einfluß
Goethes in seinen die Herzen besanftigenden und die Sitten
mildernden Liedern sowie in seinen beiden Lebenswerken
„Wilhelm Meister" und „Faust" hervortreten. „Gedenke
zu leben!" tönt die tröstliche Botschast aus Goethes
Meister-Roman, ein Stück Lebenskultur und Bildnngs-
spiegel schließt das Werk in sich, um endlich aus dem
Fahrwasser individuellcr Bildungsversuche in den Strom
deutschen Soziallcbens zu münden. Rein äußerlich gestaltet
sich aus ahnliche Weise der Gedankengang des „Faust",
dieser reinsten Blüte eines originaldeutschen Humanismus:
spiegelt der erste Teil die rein menschlichen Hauptzüge im
deutschen Lebensgang, so verdichtet der zweite Teil die
Jahrhunderte deutscher Kulturentwicklung zu symbolischer
Gestaltung, um gleich „Meisters Wanderjahren" in einer
Prophetie zu gipfeln. Mit voller Klarheit teilt Goethe
an beiden Stellen der deutschen Zukunft sozialpolitische
Aufgaben zu, und wenn er im „Faust" auf innere, im
„Meister" anf äußere Kolonisation verweist, um neuen
Boden urbar zu machen, da der alte nicht mehr zur Er-
nährung hinreicht, ^— so dürfte unser Dichter auch hier
den Aufgaben unserer heutigen Zeit nicht fernstehen.
Zu alledem gesellt sich der reiche, volle Kranz Goethischer
Spruchweisheit, deren Wert unsere Gegenwart in steigendem
Maße erkennt. Weite Streck'en des „Westöstlichen Divans"
gehören hierher, besonders aber die „Sprüche in Bersen"
und „Sprüche in Prosa" aus Goethes Alter. Gewährcn
sie doch ein volles Bild seiner Lebensaufsassung, ein Schatz-
kästlein in allen Lebenslagen zur Verjüngung und Vcredlnng
unseres Volkes. Goethe selbst hält diese Seite seiner
Wirkung mit Recht sür die höchste. An der innern Selbst-
besreiung des Jndividuums von Knechtessinn wie thaten-
loser Vertrauensduselei gearbeitet zu haben, gilt unserm
Dichter als sein eigentlicher Ruhmestitel:
Jhr könnt mir immer ungescheut
Wie Blüchern Denkmal setzen;
Von Franzen hat Er euch befreit,
Jch von Philisternetzen.
Was ist ein Philister?
Ein hohler Darm,
Mit Fnrcht und Hoffnung ausgefüllt,
Daß Gott erbarm!
Bezeichnend genug wirkt Goethe gerade auch nach dieser
Richtung mächtig auf das Ausland, so daß durch dieses
Medium deutscher Geist die Bildung zweier Welten durch-
dringt. So gesteht selbst der Amerikaner Horatio S.
White: „Die Summe indirekter Ausstrahlung, die von
Goethe ausgeht, wird, wie bei andern Autoren, wegen der
Natur des Falles selbst, eine unbekannte Größe bleiben; !
aber unsre frühere und gegenwärtige Literatur ist sehr von
seiner gnomischen Weisheit durchdrungen. Jn dieser Weise
fährt er fort, eine lebendige Macht selbst in unserer Mitte
zu sein."
Mehr jedoch als durch jeden Einzelzweig seiner Thätig-
keit wirkt Goethe auf Jn- und Ausland durch das all-
umfassende Ganze seines Wesens. Daß er Lyriker, Epiker
und Dramatiker, daß er Dichter und Denker, daß er
Künstler und Forscher und bei alledem ein Vollmensch
gewesen, gerade das macht das Großartige seines Wesens
aus. Dem Bildnngsstreben der Neuzeit in der ganzen
zivilisirten Welt ist Goethe dadurch zum unvergleichlichen
Vorbild, zum Muster und Meister geworden, wie er über-
haupt, ein Genius der Menschheit, das moderne Leben
typisch vorbildlich in sich darstellt. Ähnlich bezeugt halb
widerwillig Georg Brandes die letzte und höchste Wirkung
Goethes aus Dänemark: „Uns ist Goethe besonders so
teuer, weil wir die Natur vergöttern . . . Uns ist Goethe
ferner so teuer, weil wir die Kunst anbeten, und Goethe
uns mehr als alle andern der Künstler ist. Er, der als
Morphologe und Anatom sast ausschließlich die Form zu
definiren suchte, und der die Form als Bildung be-
stimmte . . . Wir lernten von ihm, daß wer vor allem
daran arbeitet, sich selbst zu entwickeln, am meisten Aus-
sicht hat, in die allgemeine Entwicklung einzugreifen. Die
Universalität seines Geistes ist und bleibt ein Jdeal, man
freut sich ihrer, ohne sie zn begehren (?!), aber von ihr
haben wir gelernt, im Einzelnen nie das Ganze aus dem
Auge zn verlieren."
Damit ist bereits auf ein Moment des Goethischen
Geisteslebens hingedeutet, welches endgiltig verhütet, daß
die wohlverstandene Goethe-Verehrung der Nachwelt je
verknöchere oder erstarre. Entwicklung ist das große Ge-
heimnis der Goethischen Weltseele. Ein andrer wird der
junge Frankfurter in Leipzig, ein andrer unter den Händen
Herders, ein andrer unter dem Einfluß der Frau von Stein,
neugeboren kehrt er aus Jtalien znrück, in neue Bahnen
zieht ihn Schiller fort, in neue wiederum seine eigenen
romantischen Schüler vom Jn- und Ausland: so wirkt
die Welt aus ihn, so wirkt er aus die Welt in immer
anders gearteten, immer srischen Ansätzen. Darum ist die
Summe seines Wesens nicht ein dogmatisches Prinzip,
sondern ein sließendes, quellendes, sprndelndes Menschen-
leben. Und das ist gerade der unermeßliche Gewinn, den
Gegenwart und Zukunft aus dem Anschauen des Vor-
bildes Goethes ziehen kann: daß wir uns durch Selbst-
erziehung im Strom der Welt zu immer höherer Vollendung
emporbilden.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
> Anf der dunklen Erde.
Auf diesem Spruche ruht Goethes ganzer Geist.
L. M.
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