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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 7 (1. Januarheft 1894)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0118

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es bedarf, wie »>ir schcint, keines weiteren Beweises für
seine Jndividualexistenz, als diese ganz einzige Unerreich-

barkeit der »Jlias« und der »Odyssee«. Nicht

weit weg darwn steht Dantes » Divina Commcdia«, in
der die Geschichte des spirituellen Mcnschen mit eben solcher
Beherrschung des Stosses, wie mit Größe der Linien
gezeichnet ist . . . »Don Ouiyote« steht auf derselben Hohe,
nnd es wird ihm dieselbe allgemeine Anerkennung zu teil. . . .
Er ist die einzige umfassende Satire, die je geschrieben
worden, denn er ist als solche vollkommen unabhängig
vou Zeit, Ort und Sitten. . . . »Faust« giebt uns
die Naturgeschichte des menschlicheu Erkenntnisvermögens;
Mephisto ist bloß die projizirte Verkörperung jener Zweifel-
sucht, die das bestäudige Ergebnis eiuer rein intellektuellen
Kultur ist. . . . Diese vier Bücher sind die einzigen, in
denen allgemeine Thatsachen der menschlichen Natur und

Erfahrung zur Darstellung kommcn.Jch habe

Shakspere nicht erwähnt, weil seine Werke in eine andere
Gruppe gehören. Obwohl sie das menschliche Geuie auf
seiner höchsteu Stufe zeigen, so vertreten sie doch keinen
besondercu Abschuitt in der Geschichte des individuellen
Seelenlebeus. Shaksperes Menscheu sind immer Menschen
aus dem wirklicheu Leben, wie sie durch die Sinnen- uud
Geisteswelt unter ganz bestinuuten Verhältnissen beeinflußt
werden. Wir alle können in die Lage Maebeths, Othellos
oder Hamlets kommen; wir schätzen ihre Worte und
Thaten sozusagcn mehr bedingend als aktuell, aus allgemeiu
natürlichcr Sympathie, nicht ans Grund unserer eigenen
Erfahrung. Zu jenen erstgenannten vier Werken jedoch
stehen wir iu einer ganz anderen Beziehung. Wir alle
wachsen durch die homerische Sinnenperiode hindurch.
Wir alle fühlen mit der Zeit ein Bedürfnis nach Höherem
und bilden uns, gleich Dante, unsere Meinung über die
göttliche Leitung des Weltalls. Wir alle entdecken, mit
Cervantes, den rauhen Gegensatz zwischen Jdeal und
Wirklichkeit „und, mit Goethe, die Unerreichbarkeit des
höchsten Gutes durch das Erkenutnisvermögeu alleiu.
Darum gebe ich diesen vier Werken einen besonderen
Platz. Jch will nicht sagen, daß wir sie in diesem Lichte
lesen oder auch nur, um sie voll zu genießen, lesen müssen,
aber ich glaube, daß diese Thatsache ihrer allgemeiuen und
unvergänglichen Anwendbarkeit auf uuser Bewußtsein und
unsere Erfahrung ihre Dauer erklärt und ihnen Unsterb-
lichkeit sichert."

^ Der modernen Lnstsplel-Teebnill, wie sie z. B.

bei Herstellung der so gangbaren Ware des Berliuer Hauses
Blumenthal Kadelburg angewendet wird, widmet O. Tanber
eine kleine Kennzeichnung anläßlich einer Wiener Besprechung
des „Mauerblümchens". „Das Sujet", sagt er da, „ist
jetzt bci einem gut organisirten dramatischen Fabriksbetriebe
vollkonnuen Nebensache. Die Hauptsache sind die »Eiu-
fälle«, mit denen >uan de» staunenswert sinipeln Gedanken
garnirt, mit denen man auf sein wohlpräparirtes Publiküm
spekulirt. Ehedem hatte man einen großen Einfall, der
sich zum eiuheitlichen Werke gestaltete; jetzt verarbeitet man
die »Einfälle« schockweise nnd nennt das Ganze ein Stück.
Früher schwang im Lustspicl der Humor das Szepter:
jetzt treibt der uugebundene »Witz« sein Wesen und Un-
weseu darin. Früher geuoß man >»it wohligem Behageu
das aus dem Vollen geschassene Werk; jetzt wartet ma»
mit einer gewissen Ungeduld auf den Schlager, auf die
Witzrakete des »geistreichen« Autors. Was zwischen diesen
Schlageru liegt, ist zumeist dramatische Wüstenei, platte
Konversation, krampfhafter Versnch, den lahmen Pegasus

so lange im Gange zu erhalteu, bis man ihn durch eiue
neue Reizung vorwärts zu treiben vermag. Daß sich
Dichter dieser Art bei aller Routine in der Massenfabrikation
mitunter doch einer allgemeinen Erschöpsung der Kräfte
und Mittel nähern, das konnte man > estern erfahren.
Kadelburg und Blumenthal sind Routiniers erster Güte;
sie zahlen zu den reichsten Großhändlern auf dem drama-
tischen Markte, seit Jahren sprühen die Einfälle aus dem
ersindungsreichen Kopfe Blumenthals effektvoll empor, und
Kadelburgs Schauspielerpraxis bringt das Brillantfeuerwerk
in ein solides System. Und dennoch stanven sie gestern,
wie wir uns stilgerecht kaufmännisch auszudrücken ver-
suchen, wiederholt knapp vor dem Konkurse. Wohl zischten
wieder wie sonst die Raketen empor, und das Publikum
antwortcte verständnisinnig mit dröhnenden Lachsalven;
wohl schreckten die literarischen Kompaguons ohne Rücksicht
auf die veralteten Grundsätze von Geschmack und Distinktion
vor keinem Mittel zurück, um das günstige Vorurteil des
Publikums auszunützen und aufrechtzuerhalten; nach dem
zweiten Akte aber wechselte doch schon blcierne Langeweile
mit der Premierenlust ab, der Witz verzweifelte an seiuer
Krast, der Humor war gänzlich abwesend, und den vierten
Akt empfand man als vollkommen überflüssige Strafe für
dreiaktiges treues Ausharreu " Es sollte uns wundern,
wenn wirklich eine Mehrheit des Wieuer Publikums schou
so weit wäre, wie der Versasser dieser Zeilen. Und ist
sie soweit, so thnt das dem Lustspiel-Elend vorläusig auch
noch nicht gar zu viel Eintrag. Der gute Bürger macht's
mit der Unterhaltung, wie jener gute Kaiser niit den Pracht-
kleidern: er glaubt, er habe sie, wenn ihm die Anderu
das vorreden. Und bis das sogenannte gebildete Publikum
den Schwiudel unserer Lustspielfabrikanten wirklich so ge-
wahr wird, daß es Langeweile bei so großen Meistern
wie Blumenthal einzugestehen wagt, werden noch viele
Zorn- und Klagerufe der Kritik von den dramatischen
Geschäftsinhabern ausgelacht werden.

Lola über das Ubusikdrama. Wir lesen im
„Magazin": Jn einem iieubegründeteu Pariser Sensations-
blatt eröffnet Zola eine Artikelreihe mit einem Aufsatz über
das „lyrische Drama". Erst spät, gesteht er, hat er ange-
sangen, sich sür die Musik zu interessiren. Alsred Brunean,
der zwei seiner Bücher komponirt hat, führte ihn in das Ver-
ständnis des musikalischen Dramas ein. Zola ist erstaunt zu
sehen, wie wichtig dem modernen Musiker ein gutes Textbuch
ist, dessen die Mnsik der „alten Formeln" nicht bedurste.
Gounod hätte, wie er in den Nekrologen übereinstimmend
gelesen, seine vielen Mißerfolge den schlechten Libretti zu ver-
danken gehabt. Rossini wollte ja sogar einmal die Anzeigen
einer Zeitung in leidenschastliche Musik setzen. Das war die
Musik des bloßen „Ohrenreizes".

Jn einem lyrischen Drama von der „neuen Formel" muß
es ein bestimmtes Milieu nnd lebendige Personen geben, eine
menschliche Handlnng, die mnsikalisch zu erläutern und zu ent-
wickeln die einzige Aufgabe des Komponisten ist. Jn der That
sind die meisten Libretti selbst der lebendig gebliebenen Opern
miserabel. Das ist heute anders geworden. Die jnngen
Komponisten suchen verzweifelt nach einem Text, der ihnen
hilft, anstatt sich ihnen zu unterwerfen. Das beste ist, wenn
der Komponist sein eigner Librettist ist. Eine gute moderne
Oper ist anders eigentlich gar nicht mvglich. Die Handlnng
und die Gestalten sollen aus der einen Seite entstanden sein,
ihr Leben und ihre Seele dagegen ans der andern? „Wenn
ich mir die Entstehungsweise eines lyrischen Dramas vorzu-
stellen suche, so sehe ich die Gestalten, die Handlung sich gegen-

— I0L —
 
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