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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 11 (1. Märzheft 1894)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0174

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korrekt ist, wie es eben gewünscht wird: kein erwürmender ^
Hauch eigenen Lebens geht von ihnen aus, es rinnt kein eigenes
Blut in ihren Adern. Sie handeln nicht, wie sie handeln,
weil sie ihrem Wesen nach nicht anders handeln können, sondern
sie thnn, was sie thun, weil die geschicktc Frau Versasserin das
gern so haben möchte. Es sind Stellen im Buch, wo sie viel-
leicht etwas tiefer, witziger, bedeutender reden und handeln
wnrden, thäten sie's aus der eigenen Kraft der Charakter
heraus, als die wir sie nehmen sollen. Viele Leser wcrden
anch so zufrieden sein. Siegfried wird ihnen ja immerhin ein
paar Stunden zu vertreiben helfen. E.

Tdeater.

* MiLbtigere ZLbausptel-NuMb.ru,igen. 59.

Aus Berlin wird uns geschrieben:

Zwei Dramen, die im Volksboden wurzeln, sind als Berliner
Neuigkeiten zu melden. Das eine wächst aus dem märkischen
Milieu heraus, das andere aus dem neapolitanischen. Beide
hatten Erfolg, weil sie statt allzn sein gesponnener Jntimitäten
große Bühnenwirkungen geben.

Das erste beherrscht jetzt neben Madame Sans-Gane das
Lessingtheater. Fedor von Zobeltitz, der Verfasser, gab
ihm den geschickt gewählten Namen „Ohne Geläut". Jn diesem
Titel liegt Jnhalt und Lokalkolorit. Wir sehen die Brant,
welche ihre Jugend verloren hat, unterm Schweigen des Dorf-
volkes ohne Glockengelünt znm Altar gehn. Die Braut ist das
Stiefkind des reichen Lehnschulzen, selbst sehr vermögend, und
einst von ihrem verstorbenen Vater mit einer besseren Erziehung
bedacht. Nun, hineingeworsen in die dumpfen bäurischen Ver-
hältnisse, sehnt sie sich nach Erlösung, nach Aufnahme in feinere,
gesittetere Kreise. Da kommt ihr ein Landwirt, kein Bauer
sondern ein Wissenschaftler, mit seinem Antrag. Sie mag ihn
gern und schlägt ein. Aber sie vergißt sich in der Glut der
ersten glücklichen Leidenschaft, und noch vor der Verlobung
giebt sie sich dem stürmischen Manne hin. Die Verstimmnng
kommt gleich hinten nach. Der Stiefvater ahnt, daß dem Land-
wirt kaum an etwas Anderem gelegen, als seine schlechten
Finanzen aufzubessern. Er ist überhaupt nicht für Vermengung
des Banern- und Gelehrtenbluts. Er schlägt ab. Da entfährt
dem Doktor das Geheimnis des vergangenen Abends. Große
Szene — was bleibt übrig, als einzuwilligen? Aber nur ein
kleiner Teil von Annas Vermögen soll in seine Hände über-
gehn. Das giebt dem Landwirt keinen schlechten Stoß. Er
klagt seinem mephistophelischen Freunde, dem Kreisphysikus,
sein Leid. Und Anna, im Nebenzimmer, muß die surchtbarsten
Dinge hören. Sie muß hören, daß ihr Bräutigam sie gar-
nicht liebt, daß er nur ihr Geld erstrebt und daß er jene
leidenschastliche Szene, in der sie sich verlor, mit Absicht,
sogar auf dieses Freundes Rat, herbeigesührt habe, um auch
beim Widerspruch der Eltern ihrer sicher zu sein. Weinend
verläßt sie das Haus des Stiefvaters, dem die Schande seiner
Tochter die ausregendsten Szenen und schreiende Vorwürfe des
Bauernvolkes einbringt, und sie sncht Trost beim Pastor, der
ihr schon lange ein Jnteresse entgegen bringt, welches die pflicht-
gemäße Liebe des Seelenhirten überschreitet. Und richtig: die
Beschwichtigungsversuche des Pastors endigen in dem schwer
abgerungenen Geständnis seiner eigenen Liebe, in dem Ent-
schluß, selbst unter Aufgabe des bisherigen Berufs Anna heim-
zusühren — auch ohne Geläut. Nls der Landwirt, dem von
anderer Seite seine Finanzen zurecht gerichtet worden, mit dem
dicken Geldbeutel und der Zustimmung des lachenden alten
Banern vor sie hintritt, giebt sie ihm, von den freudig leuchten-
den Augen des Pastors begleitet, einen energischen Abschied.
Dies der Gang des an szenischen Wirkungen reichen Stückes.

Jch hatte geglanbt, etwas mehr Lokalkolorit zu finden, eine
Dichtung anzutreffen, die ihre märkischen Lente anpackt, wie
Anzengrnber und Rosegger es mit den ihren thun. Aber der
Erdgeruch dringt hier nur episodisch herein. Die Charakteristik
kommt der Lebenswahrheit am nächsten in Ler Gestalt des
Landwirts. Der wird niemals so schlecht, daß er nicht doch
einen Rest von Gewissen in sich verspürte; so nur entsteht jene
Kreuzung, welche natürlicher anmutet, als typische Einseitigkeit
in der Charakterzeichnung, an der z. B. der Pastor, wie so
vicle Bühnenpastoren, leidet. Einige schlechte technische Motive,
wie „Horchen" und „Erbonkel", konnten den Gesamteindruck
nicht schwächen, zu dem eine im Einzel- wie Zusammenspiel
geradezu unübertresfliche Ausführung nicht das Wenigste beitrug.

Mit dem neapolitanischen Volksstückbasgo?orto" von
Cognietti hatte das Neue Theater endlich wieder einen
glücklicheren Abend. Die Begeisternng der zahlreichen Jtaliener,
die es aus der Taufe hoben, und die italienfreundliche Stimmnng
des deutschen Publikums, welche ihm noch sehr schlecht bekommen
wird, hielten das Stück oben. Es ist eine Fortsetzung von

SLNM kbucia, jenes Cogniettischen Dramas, das durch die
Tascasche Opernbearbeitung bei uns bekannter geworden ist.
Maria, die die Geliebte ihres eigenen Geliebten ins Wasser
getrieben hat, ist nun nach einem andern Stadtteil Neapels
gezogen. Aber der Rächer geht ihr nach. Er will sie in ihren
Kindern strasen, will die Tochter zur Dirne, den Sohn zum
Sträfling machen. Mit Aufgebot aller Kräfte, änßerer nnd
innerer, arbeiten diese Menschen gegen einander. Jn einer
Sitzung des Geheimbnndes der Kamorra laufen die Fäden zu-
sammen. Als der Bösewicht auch diesem Urteil sich entziehen
will, unter der Drohung, das ganze Nest anszuheben, bereitet
Maria mit einem Dolchstoß seiner wilden Kraft ein Ende.
„Die Madonna selbst hätte nicht anders gehandelt" — so über-
läßt sich die Retterin ihrer Kinder der Polizei. Das giebt
eine Reihe leidenschaftlicher Situationen, giebt bunte Bilder,
giebt Szenen aus dem südlichen Volksleben: und die üußere
Wirkung ist da. Aber solche Sachen sind doch heut stark
veraltet. Gskar Bie.

Musik.

» Dans von Wülovv ist geftorben.

Wer ihn nnr einmal bei der Arbeit gesehen hatte,
diesen seltsamen großen Menschen, wie er als Beethovcn-
Apostel am Flngel saß oder mit napoleonmäßigem Herrscher-
bewnßtsein den Taktstock führte, der empfand, daß er eine
Persönlichkeit von ungewöhnlichster Stärl'e vor sich hatte.
Und in der That bildete dieses grundechten Künstlers
Wirken in vieler Beziehung Mittelpunkt und Achse unserer
musikalischen Reproduktion. Hier war er ein ?raeceptor
Oerirmrckne durch sein Beispiel.

Denn seine Bemühungen für stilgerechte Wiedergabc
unserer klassischen Meisterwerke von Bach bis auf Wagner
und Brahms haben vorbildlich gewirkt. Bei keinem
Geringeren als Wagner war Bülow in die Schule
gegangen mit dem Bemühen, den innersten Kern eines
Tonwerks den Hörern klarzulegen und das Ganze in
folgerechter psychologischer Entwickelung nachzuschaffen und
nun zu vermitteln. So ward er im Wiedergeben ein
Schöpfer, unvergleichlich genial in seiner Art. Die Grnnd-
fätze, die Wagner in seiner Schrift „Über das Dirigiren"
theoretisch anfgestellt, — Bülow strebte, sie zu verwirklichen,
und er setzte in Wahrheit die Worte seines großen Lehrers
in lebendige Thaten nm. Man vergegenwärtige sich nur
in der Erinnerung die Konzerte, die Bülow zu Anfang
der achtziger Jähre mit der Meiningenfchen Hofkapelle,
 
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