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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 11 (1. Märzheft 1894)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0180

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der Wohlhabenden jene leldenschaftliche Liebe zu schönen
Werken der Menschenhand und der Menschenseele fast aus-
gestorben ist, die einst bis in die Kreise der wohlhabenden
Bauern das ganze Volk erfüllte.

Vielen ernsten Natnren wird der Dilettantisnius den
Lebensinhalt geben, den ihre Begabung verlangü und der
ihnen von unserem verflachenden Gesellschaftsleben nicht
geboten wird.

Der echte Dilettantismus macht bescheiden, weil er
empfinden lehrst was schaffen heißt. Uns Deutschen könnte
er durch diese Krast helfen, einen der schlimmsten National-
fehler zn bekämpsen oder wenigstens auf dem Gebiete der
Kunst seine verheerenden Wirkungen einzudämmen. Wir
haben ähnlich wie bei dem anderen Nationalfehler, dem
Trinken, einen verdächtigen Reichtum ani Synonymen, nm
die unerzogene Art der Meinungsäußerung zu bezeichnen
(„lieb' Kind hat viele Namen"): das Losziehen, Herunter-
reißen, Lospoltern, Herfallen, Absprechen, die Tadelsucht,
die Krittlichkeit.

Einer neuen Erscheinung, einer neuen Jdee gegenüber
fühlen wir eine Art Verpflichtung, zunächst zu verneinen.
Das „Nein" ist fogar der Ausdruck höchster Bewunderung
geworden. Die nationale Erziehung, die wir uns noch zu
geben haben, wird aus die Ausrottuug dieser üblen, aus
der Enge der Verhältnisfe und des Gesichtskreises ent-
sprungenen Angewohnheit des Aburteilens ihr besonderes
Augenmerk zu richten haben. Der Kampf wird schwierig
sein, denn nicht selten ist die schlechte Gewohnheit zu einer
Leidenschast crstarkt. Es giebt Kreise, in denen das Über-
wucheru dieser Neigung, in platte Schimpferei ausgeartet,
den Aufenthalt unerträglich macht. Wer aus einem Strich
mit milderen und menschlicheren Sitten hineingerät, fühlt
sich wie unter Verdammten.

Unsere Nachbarn haben in dieser Beziehung eine andere
Schule durchgemacht, als wir. Bei den Romanen ist selbst
im Mittclalter das Kulturkapital der Antike nicht ganz auf
gezehrt worden. Jn Jtalien packte die sreie Bildung der
Renaissance den ganzen Menschen, in Spanien und Frankreich
haben mächtige Höfe dem ganzen Volke ein Norm vor-
nehmer Formen gegeben. Frankreich hat seit den Tagen
Ludwigs XVI. für ganz Europa das Muster des streng
auf sich achtenden, im Umgang die höfliche Form wahren-
den Hosmannes anfgestellt, dessen Typus bis hente nach-
wirkt. Mag die französische Höslichkeit nicht aus ethischem,
sondern aus geselligem Bedürfnis entstanden sein, sie ist
eine Thatsache. Das Lospoltern beim unerwarteten Anstoß,
die Krittelei sind durch die ruhige Macht der Sitte
unterdrückt.

Andere Wege hat die englische Kultur eingeschlagen.
Der Träger und Pfleger der Sitte war dort zu keiner
Zeit der Hos. Nicht der Hosmann hat das Vorbild des
erzogenen Menschen gegeben, sondern der Gentleman, der
Edelmann. Und das heißt in England der Landedelmann,
denn die englische Gesellschaft ist in der modernen Welt
die einzige, die grundsätzlich ani Landleben festgehalten hat
und in der Stadt nur vorübergehend Aufenthalt nimmt.
Das Landschloß und Landhaus hat sich auf der Grund-
lage des altsächsischen Bauernhofes zu einem Mikrokosmos
entwickelt, der seinem Bewohner alle Genüsse des knltivirten
Daseins'bietet, genau wie die Villa des vornehmen Römers.
Die straffen und doch geschmeidigen Formen des Hoflebens
konnten sich in England nicht entwickeln. Es bleibt selbst
im Gentleman immer eiu Rest vom Bauern, der auf sich
selbst gestellt ist. Aber ein anderer Faktor hat die Um-

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gangsformen geläutert, das ist die Schule des Puritanis !
mus. Das englische Volk, das alle Erkenntnis für das !
Leben fruchtbar zu machen von je bestrebt war (auch das
ist ein im besten Sinne bäuerischer Zug), hat in der !
religiösen Bewegung nicht so sehr den Streit um das
Dogma gesucht, wie die Anwendung religiöser Grundsätzc
im praktischen Leben. Es hat diese Tenden; Geschlechter
hindurch mit drakonischer Strenge verfolgt. Der Puritanis-
mus hat die Menschen zur Selbstkritik und zur Selbst
zucht erzogen und vom Bürgerstande aus, seiner festen Burg,
die widerspenstige Aristokratie bezwungen. Uns fallen natur
geniäß die Auswüchse zuerst in die Augen, aber wir dürfen
die liebenswürdigen Formen nicht übersehen, die das täg-
liche Leben der hohen Schule religiöser Erziehung verdankt.
Das Besserwissen und Absprechen sind keine Nationalfehler
bei den Engländern im Verkehr unter einander.

(Schluß solgt.)

* Monumentale Nutgaben. O. Gruner, dessen
trefslicher Aufsatz über „akademische Baukunst auf dem
Lande" im Kreise unserer Leser so viel Teilnahme erregt
hat, hat im „Zivilingenieur" noch die folgenden An-
regungen über einen Gegenstand verössentlicht, der unsere
Bestrebungen nicht minder nahe berührt:

Es ist gewiß kein bloßer Zufall, daß uns von den
Bauwerken des Altertnms zumeist nur solche erhalten ge-
blieben sind, die für öffentliche Zwecke ritueller Natur
dienten, oder deren Konstruktion schon mit Rücksicht anf
ihren Zweck (Städtebefestigungen, Brücken, Aquädukte) ihnen
eine lange Dauer sicherte. Von den Profanbauten der
Egypter für Staatszwecke, an denen es bei dem hohen
Kulturgrade dieses Volkes doch gewiß nicht gefehlt haben
wird (z. B. Gerichtshäusern, Kasernen u. dergl.), wisseu
wir sozusagen nichts,und von dem Aussehen ihrer Wohn-
häuser können wir uns nur mit Hilfe einer erhaltenen
Reliefdarstellung, in der man das Bild eines solchen glaubt
erkennen zu dürfen, eine allgemeine Vorstellung macheu.
Nicht viel anders wäre es mit unseren bezüglichen Kennt
nissen hinsichtlich der Griechen bestellt, wenn uns nicht
hier Schilderungen und Andeutungen Homers und der
Dramatiker zu Hilse kämen, und nur einem unglücklichen
-— für uns glücklichen -— Ereignisse haben wir es zu
verdanken, daß wir in den pompejanischen Ausgrabuugen
greifbare Beispiele von Wohnhäusern in einer Landstadt,
sowie durch die t.883 erfolgte Aufsindung der Vestalinnen
Wohnhäuser auch solche in der alten Weltstadt selbst kenneu
gelernt haben. Daß dieser Mangel an Wohnhausruincu
mit der leichten Behandlung aller Wohnungssragen, dic
dem Südländer z. T. ja noch heute eigen ist, zusammen-
hängt, darf ruhig behauptet werden; mag doch bei der
Wahl der Baumaterialien, der Art und Güte der Aus
sührung von bürgerlichen Häusern, die sich ja auch gewisser
Bauformen enthalten mußten, gegenüber den Tempel-
bauten ein merklicher Abstand geherrscht haben.

Aber ein weltbeherrschendes Volk wie die Römer
brauchte doch sür öfsentliche Zwecke gewiß eine ganze
Reihe von Gebäuden, die mit dem Verzeichnis der uns
erhaltenen Reste (Tempel und Basiliken, Kaiserpalästc,
Theater und Zirken, Thermen und Wasserleitungen) bei
weitem nicht erschöpft ist. Es sei nur an die Domizi
lirung der Reichsregierung und der Stadtverwaltung, an
die gewiß umsänglichen Gebäude (oder befestigten Lager)
für das Heer und für den, wie wir wissen, vortrefslich
organisirten Nachrichten- und Postdienst erinnert; von den
Straßen und Brücken, die ihm dienten, sind unvergäng-

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