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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 11 (1. Märzheft 1894)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0183

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Man kann natnrlich eineni Nntoren nicht einen Vorwurf
daraus machen, daß er uicht einen Standpunkt eiunimmt,
wie man es gerade wünscht, weil man ihn für einzig frucht-
bringend hält. Aber es bleibt zu verwundern, welche lange
Zeit hindurch Thesen eines Mannes, die nur noch historisches
Jnteresfe erwecken, kritiklos zur Gruudlage einer wissenfchaft-
lichen Untersuchung genommen werden. Es sehlt an Naivetat,
au srifcher Unabhängigkeit des Urteils. Jch bin Jch, und was
Jch zu sagen habe, das sage Jch auf meine mir eigene Art
und krieche nicht erst unter das Jch irgend eines Ästhetikers

- das müßte solchen Untersuchungen an der Spitze stehen,
wenn sie wertvoll für uns sein follen. Aber davon sind wir
leider noch weit entfernt. So auch hier. Als Gruudlage
dient dem Verfasser Zimmermanns Ästhetik uud die völlig un-
brauchbar gewordene Ansicht, das Schöne sei bloße Form, sei
nur als schöner Schein gegeben, es „hafte an der Malerei
wie der schöne Staub an den Flügeln des Schmetterlings".
Solche Normirung mu ß te ja die ganze Ästhetik in Miskredit
bringen, so daß heute Künstler und Ästhetiker sich verachtend
den Rücken zukehren, anstatt Hand in Hand zu arbeiten. Es
kann dem gegenüber nicht eindringlich genug gesagt werden:
Kehrt zurück zur naiven, einzig fruchtbaren Anfchauung; das
Schöne ist keine Eigenschaft, kein Bestandteil, keine Form der
Objekte, es haftet nicht an diesen, gehört ihnen gar nicht an

— das „Schön" ist eine Urteilsform, eine Aussage, es gehört
allein mir dem Subjekte an, es ist eine Aussage zur Bezeichnung
einer bestimmten Wirkung der Wahrnehmung, einer Empfindung,
eines Gefühls. Da es mit dem Gegenstande nur insofern zu-
sammenhängt als dieser die Ursache meiner Wahrnehmung
(also durchaus sekundär), so müßte es sich in der Ästhetik vor
allen Dingen um die Feststellung der Gesetze handeln, unter
welchen ich selb st stehe, damit die Urteilssorm „Schön" perfekt
werde, d. h.: wie muß die ganze Summe meiner Vorbereitung,
meines körperlichen und geistigen Befindens mit seinen wechseln-
den Einflüssen auf meine Stimmung, wie mnß meine wissen-
schaftliche, nationale, ethische, ästhetische Bildung usw. sein?

Statt dessen wird im vorliegenden Buche — ganz ent-
sprechend so vieleu andern — einfach normirt: „Nur wo
uns nach Schluß des ästhetischen Prozesses ein vollkommen
harmonischer Geist eutgegentritt, versöhnend und erhebend,
nur dort wird die Erkenntnis des Schönen unsere Seele voll-
kommen rein erfüllen." Sehr wohl gemerkt: „entgegentritt"
(also im Objekt, hier den Shakespere-Dramen). Nicht etwa in
unserm Sinne: „erfüllt" oder in ähnlicher subjektiver Fassung.
Hiernach ist klar, wie die Disposition der Broschüre ausgesallen.
Zunächst werden im Anschluß an Zimmermann die sogenannten
sünf asthetischen Formen besprochen mit der des abschließenden
Ausgleichs. Dann werden nach einigen Abschweifungen die
Shakespere-Dramen auf letzteren hin untersucht und wird
herausgefunden, daß gerade in ihnen die Jdee der „Billigkeit",
der „Wiedervergeltung", die „sittliche Weltordnung als oberste?
Gesetz", die veraltete Jdee der poetischen Gerechtigkeit ihre
Verklärung finde.

So bringt uns auch dieser Teil nichts Neues. Dem Ver-
sasser wäre -eine Lektüre von Theodor Lipps Schrist „Der
Streit uber die Tragödie" anzuraten (Beiträge zur Ästhetik,
herausgegeben von Lipps und Werner, Hamburg, Voß). Daß !
jedes Drama einen Abschluß haben muß, ist wohl klar. Ob
sich sür diesen im Laufe der Zeit bestimmte Normen eingeführt

haben, das zu untersuchen ist Sache der Kunstlehre. Jch glaube
nicht, daß es möglich ist, ein festes Gesetz dafür auszufinden,
es müßte denn so allgemein und weit gehalten sein, daß es
damit aufhörte, spezielle Bedeutung zu haben. Daß aber wir
selbst beini Abschluß jedes Dramas insofern im Ausgleich
sein müssen, als das Drama uns uicht im geringsten mehr ein
Problem setzen darf, das hat der Verfasser nicht dargethan.
Wäre es nicht gesünder gewesen, anstatt überall die Moral
auszuklügeln, die verschiedenen Abschlüsse der Shakespereschen
Dramen neben einander zu stellen, das Prinzip des harmonischen
Ausgleichs subjektiv zu fassen und uun historisch sestzustellen,
unter welchen Bedingungen die damit verbundene innere Be-
sriedigung und Lösung eintrat?

Jch will das näher erläutern. Der Verfasser sagt (S. ts),
es sei in neuerer Zeit besonders durch Jbsen zur Mode ge-
worden, die Stücke ohne eigentlichen Schluß zu lassen, um mit
einer sogenannten offenen Frage abzuschließen; das sei eine
„Verletzung der ewigen Formen des Schönen". Jch sage, es
steht dem Künstler vollkommen srei, so oder so zu schließen —
„ewige Formen des Schönen" giebt es nicht. Aber: wenn
wir bei fragendem Abschluß (ein solcher wird ja auch in der
musikalischen Komposition verwendet) unbesriedigt bleiben, so
liegt der Fehler zunächst an uns — oder anders, alsdann
sind in uns noch nicht die Bedingungen des ästhetischen
Genießens erfüllt; dann ist noch nicht derjenige Punkt unserer
geistigen Vorbereitung erreicht, welcher eben erreicht sein muß
als Vorbedingung sür die Urteilsform „Schön". Das aber
hängt nicht von dem „Modewerden" ab, das geschieht uns nicht
nur bei Jbsen, Hauptmann usw., sondern kann auch bei unsern
Klassikeru eintreten. Schiller schließt seinen Don Carlos:
„Kardinal, ich habe das Meinige gethan. Thun Sie das Jhre."
Wie mancher hat in seiner Jugend dabei gedacht: Jst das das
Ende? und gesragt: Ja, was geschieht denn jetzt eigentlich mit
ihm? Das war ein Zeichen, daß für ihn der abschließende
Ausgleich, zu welchem doch der Dichter gelangt war, noch nicht
gefunden, daß erst Schule oder Haus mit der Erklärung der
Jnquisition einspringen mußte. Es kommt also in erster Linie
darauf an, daß für das ausnehmende Jndividuum
der Schluß die Bedeutung eines besriedigenden lösenden Aus-
gleichs hat.

Der fragende Abschluß stellt immerhin eine größere
Forderung an die Denkkraft, als jeder andere. Er ist also
weniger erhaltungsgemäß. Und da das üsthetische Genießen
eng zusammenhängt mit unserer Erhaltung, mit dem Balance-
halten der störenden und fördernden Einflüsse, so wird diese
Schlußform des Dramas die weniger angewandte bleiben. Das
ist der richtige Gedanke, der auch der besprochenen Broschüre
zu Grunde liegt. Andererseits ist der Verfasser wieder nicht
srank und srei genug, den sogenannten banalen „guten Aus-
gang", der mit der Heirat der Liebenden und dem äußeren
Triumphe des Helden seinen Abschluß findet, für dramatisch
anzuerkennen. Jst denn das naiv ästhetische Verhalten all
derer mit geringerer geistiger Vorbereitung kein üsthetisches
Verhalten? Liegen ihni nicht dieselben Bedingungen zu
Grund? Jch glaube, es ist schon ersichtlich geworden, daß der
einzig fruchtbare Standpunkt nicht der sei, weiter zu forschen
nach den objektiven Formen des Schönen, sondern nach den
subjektiven Vorbedingungen sür jedes ästhetische Urteil, welches
es auch sei. Fr. Sarstanjen.

. Lme grosse l^risebe Form? — Ikundsebau. Dichtung. Schöne Literatur. 32. — Theater.
. Wichtigere Schauspiel-Aufführungen. 59. — Musik. Hans von Bülow 7. Wichtigere Musik-Aufsührungcn. 29.
— Bildende Künste. Kunst-Literatur. t2. Das Ausleben des Dilettantismus. Monumentale Aufgaben. — Vermisch tes.

Schristen über Ästhetik.
 
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