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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1894)
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Über Pantomimen
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0188

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„Gartmbau". Jni ferueren Berlauf der Linie treten die
künstlichen Eleinente zunächst stärker in den Vordergrund.
Anordnung von kunstgewerblichen Dingen, Arrangernents
von Möbeln, dekorative Einrichtungen, Zusanunenstellung
von altmodischen Stücken zur Erreichung einer klein-
städtischen Stimmung, Vereinigung von Rokokopikanterien
zur Charakteristik eines demimondainen Boudoirs, wirre
Bücher- und Papierhausen zur Kennzeichnung nnruhiger
Genialität — alles, was etwa die „szenische Regie" um-
faßt, gehört hierher. Gemeinsam ist die Verwendung oder
Anordnung künstlich geschassener Dinge zur Darstellung
eines bestimmten Ausdrucksgehaltes. Diese Dinge ziehen
sich weiterhin immer enger um den Menschen, als wichtigstes
Zentrum, zusammen: sie charakterisiren als menschliche Um-
gebung. Schließlich gehen sie an den eigenen Leib des
Menschen heran: als „Maske". Hier ist der Punkt, wo
sich der Mensch selbst als Naturbestandteil zur Darstellung
einer Idee erfaßt: er wird „Mime". So ist der Kreis
geschlossen, da das Natürliche über das Künstliche wieder
zum Natürlichen zurückkehrte. Von diesem Knotenpunkt
zweigen sich zwei Wege ab. Der eine setzt jene Linie
der Darstellung fürs Gesicht fort; er führt zunächst ins
Reich der aesthetischen Körperlichkeit, das ist der „Plastik",
dann ins Reich der aesthetischen Flächenhaftigkeit, die noch
snbjektiver, noch mehr Eindruck ist, das ist der „Malerei"

-— die Linie verliert sich ins Musikalische und Poetische.
Der zweite Weg knüpft an die andere Seite der mimischen
Doppelnatur an. Denn es giebt Gesichtsmimik, die in
Mienen und Gesten schafst, und es giebt Gehörsmimik,
die durch den stimmlichen Ausdruck darstellt. Dieser Weg
führt direkt ins Gebiet der Musik hinüber. Jm stimm-
lichen Ausdruck lebt eine latente Musik, welche sich von
dem Zwange gleichzeitiger, mathematisch sundirter Form-
gesetze heranfgehoben hat in die Sphäre bloßer, lebens-
gewöhnlicher Charakteristik. Sie verliert dadurch an
elementarer Tiefe und gewinnt an Allgemeinverständlichkeit.
Ausdrucksmnsik und Ausdrucksmimik sind nur Disseren-
zirungen des Ausdrucksgehaltes, welcher in der Sprache
von Anfang an gegeben war. Genau in der Mitte
zwischen der Lautmimik und der absoluten Musik liegt der
Gesang, welcher darnm den Gipfel stimmlicher Ausdrucks-
fähigkeit bedeutet.

Nach Betrachtnng dieser Geographie der Umgebnng
mimischer Kunstarten sehen wir zu, woran die Mimik
grenzt. Zunächst an die, allmählich ineinander über-
führenden Gebiete der „Regie" und „Maske". Dann
an die feineren Gesichtskünste der Plastik und Malerei.
Endlich an die reine Ausdruckskunst für Gehör, die Musik.
Die Mimik selbst aber, als Darstellung von inneren und
äußeren Vorstellungen, scheidet sich in Gestchts- nnd
Gehörmimik. Die Defiuition fällt nun kurz aus: Panto-
mime nennt man diejenige Mimik, welche vor diesem,
nach dem Ohr sich zuwendenden Gebietsteile abschneidet.

Sie hat von jeher das Bedürfnis gefühlt, diese Lücke auf
sehr einfache Weise ansznfüllen. Da ihr die latente Mnsik
der Gehörmimik fehlt, greift sie zur absoluten Musik hin-
über und engagirt diese zur ständigen Begleiterin. So
gleicht sich das Desizit wieder aus.

Zu allerlei Gedanken über die Fähigkeit dieser selt-
samen und seltenen Künstgattung, soweit sie ganze Dramen
umfaßt, wurde ich angeregt durch die Vorstellnngen einer
pariser Pantomimentruppe in Berlin, welche mit einem
ebensolchen Erfolge uns den „Buckelhans" aufführte, wie
seiner Zeit der „Verlorene Sohn" Mißerfolge gehabt
hatte, jene erste der großen modernen Pantomimen von
weltliterarischem Rufe. Der „Buckelhans" ist aber auch
das Muster eines pantomimischen Stoffes. Jch skizzire
kurz den Jnhalt.

Erster Akt. Treiben in einer ordinären, mit Bordell
verbundenen Vorstadtspelunke. Typen der leitenden Wirtin,
der Kupplerin, ihrer Söhne — des unmäßig verkommenen
älteren und des jüngeren, der äußerlich verkrüppelt, aber
innerlich von einer gewissen dnmpfen Ahnung höherer
Dinge beseelt ist. Ein anständiges Mädchen, von einem
jungen Herrn verfolgt, verirrt sich in die Spelunke. Die
Kupplerin begreist den Sachverhalt, lockt sie in ihre
Wohnung und sucht ihren Verdienst herauszuschlagen.

Zweiter Akt. Jn dieser Wohnung. Das Mädchen
mit Buckelhans allein. Langsam lernen sie sich schätzen.
Sie sieht in ihm einen Elenden, der zu Besserem geboren,
er in ihr den ersten Hofsnungsstrahl glücklicherer Welten.
Das rohe Volk kommt nach Hause, betrunken singen Mutter
und Sohn ein derbes Lied, die Kuppelei schlägt fehl, und
Buckelhans rettet das Mädchen durch schlaues Zitiren der
Polizei.

Dritter Akt. Jm Garten des fürstlichen Schlosses,
wohin das Mädchen als Gouvernante engagirt war. Sie
hat den Buckelhans als Diener und Freund mitgenommen.
Milieu eines reichen Festes. Ein Marineosfizier hält um
die Hand der Gouvernante an, der Buckelhans ahnt es,
bewirbt stch im Ernst um ste, sie lacht, er verzweifelt —
er sticht sie nieder und stürzt sich selbst von der Brücke
hinab.

Es ist auf den ersten Blick ersichtlich, welche Fülle
pantomimischer Motive dieser Stoff birgt. Einfache, große
Leidenschaften; Vorgänge, welche sich sofort äußerlich ver-
ständlich machen; Entwicklungen, welche sich gerade an seh-
bare Dinge knüpfen und in sehbare Abläuse umsetzen.
Aber das Wesen einer Pantomime — und dies ist der
Grund ihrer niedrigeren Stellung — besteht mehr in der
Darstellung und Wiedergabe, als in der Erfindung des
Stoffes. Und an diese Darstellung, an die Ausarbeitung
im Einzelnen und die begleitende Musik ließen sich folgende
Betrachtungen anknüpfen.

Noch herrscht die Tradition und der Schematismus
zu sehr in der modernen Pantomime. Diese Kunstgattung

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