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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 14 (2. Aprilheft 1894)
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Was uns die Kunstgeschichte lehrt, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0221

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endlich verschieden unter einander sind, was haben fie alle
doch gemeinsam?

Zunächst: „alle großen Meister sind durch und dnrch
Söhne ihres eigenen Volkes gewesen." „Je aus-
fallender es erscheinen könnte, daß gerade diejenigen Meister
sich des größten internationalen Ansehens erfreuen, deren
Kunstcharakter am wenigsten international ist, destv schärfer
muß es betont werden." Mit einem kurzen Rundgang
durch die italienische, die vlämische, die holländische, die
spanische, die französische, die englische und die ältere deutsche
Kunst vergegenwärtigt uns Woermann die Allgemeingiltigkeit
des Prinzips der Volkstümlichkeit. Aber es hat seine
Milderungen, die wir nicht übersehen dürsen. Ein Volk
wie ein Jndividuum kann von einem andern lernen,
ohne daß es dadurch im Entfalten der eigenen Art im
Mindesten behindert würde. Jst also einem das Aufzu-
nehmende so verwandt, daß es mit ihm selber verschmolzen
werden kann, so darf es ihm willkommen sein, wenn es
an und für sich gut ist. Natürlich können nahe verwandte
Völker einander nützlicher anregen, als solche, die sich
fremder sind. „Ferner läßt sich im Allgemeinen nach-
weisen, daß die Einflüsse realistischer Nachbarströmungen
eher selbständig verarbeitet werden können, als die Ein-
wirkungen idealistischer Richtungeu." Selbstverständlich,
„denn wenn die Normalkunst eines seden Bolkes unmittel-
bar aus der Natur schöpft, so wird eine Kunst, die an
Richtungen anknüpft, die der Natur nahe stehen und daher
Spielraum für selbständige Weiterentwicklung im idealen
Sinne lassen, weniger bedenklich sein, als die Anknüpfung
an Jdeale, die der besonderen Veranlagung eines anderen
Volkes entsprangen." Den Holländern des t7. Jahr-
hunderts, die Caravaggio nachstrebten, bekam selbst der
Jtalismus immerhin Lesser, als den Nachahmern Raffaels
und Michelangelos unter ihren Landsleuten. Die nordischen
Meister unsers Jahrhunderts, welche die großen Nieder-
länder studirten, kamen weiter als die Rompilger. „Endlich
muß noch betont werden, daß gewisse technische Errungen-
schaften, die mehr der Erkenntnis als der künstlerischen
Empfindung entspringen, von jeher Gemeingut der Völker
gewesen oder geworden sind." Die vlämische Ersindung
der Dlmalerei naß in naß wie die italienische Ersindung
der Perspektive verbreiteten sich rasch überall hin und
schadeten nirgends dem Ausdruck des Volkstümlichen in
der Kunst. Woermann will von ähnlichem Standpunkte
aus die heutige Freilichtmalerei beurteilt wissen, für die
sich übrigens Vorahnungen und Borerkenntnisse bis ins
fünfzehnte Jahrhundert zurückversolgen lassen. „Es ist so
gut eine internationale Wahrheit, wie die Perspektive, was
hier ins Leben getreten ist. Wer erinnerte sich nicht, in
seiner Jugend auf den Unterschied zwischen der lichtum-
flossenen Helligkeit der Dinge in der Natur und der bräun-
lichen Brühe, in der sie auf vielen Bildern schwammen,
ausmerksam geworden zu sein, und, wenn er seinen Lehrer

schüchtern aus diesen Abstand hingewiesen, zur Antwort er
halten zu haben: »Die Natur täusche das Auge; malen
ließe das sich jedenfalls nicht.« Jn ähnlicher Weise wird
noch mancher Meister der Giottoschule seinem Schüler, dem
die Unzulänglichkeit der damaligen Versuche der Malerei,
die Dinge in richtiger Linienperspektive wiederzugeben, auf-
gefallen, geantwortet haben: »Das ist alles recht schön und
gut; aber malen kann mau das nicht.« Es wäre daher
eine völlige Verkennung, in dem Streben der Gegenwart,
die Dinge in ihrem richtigen Lichte zu sehen und wieder-
zugeben, nichts als eine französische Laune zu sehen, der
gute Deutsche uicht nachgebeu dürften. Das Gegenteil ist
der Fall. Fritz von Uhde ist durch und durch ein deutscher
Künstler, obgleich er einer der ersten Deutschen gewesen,
der den Frauzosen die notwendige, weil naturwahre Äußer-
lichkeit des »pluin uir« abgesehen hatte. Jn der That
schwelgt denn schon jetzt die ganze Welt im »Freilicht«;
es ist bereits Gemeingut der Völker geworden; man em-
psindet es nicht mehr als eine französische Besonderheit;
uud man sieht in Kunstrichtungen, die sich ihm absichtlich
verschließen, nichts als Blindheit oder Verblenduug, die
sich zu allen Zeiten gegen alles Neue gesträubt haben."

Zum Zweiten sind sämtliche Künstler, die wir als
Klassiker gleichviel welcher Richtuug verehren, Söhne
ihrer eigenen Zeit gewesen. „Daß Phidias, in
dem sich der ganze weihevolle Aufschwung des hellenischen
Volksgeistes nach den Perserkriegen verkörpert, und Apelles,
der Freund Alepanders des Großen, dessen Kunstweise das
reichere Leben einer üppigeren Zeit wiederspiegelt, daß Giotto,
der Verkünder des Sonnenausgangs der italienischen Bolks-
seele, und Botticelli und Benozzo Gozzoli, die Vertreter
des srischen Beobachtungssinnes der Frührenaissancezeit, daß
Leonardo da Binci, in dem sich die ganze vielseitige Blüte
des Geisteslebens der italienischen Hochrenaissance erschloß,
und Michelangelo, Rassael und Tizian, die schon Vasari
im Vorwort zum dritten Teil seiner »Vits« als Haupt-
vertreter der Zeit nennt, die er in seinem Sinne als »die
Moderne« bezeichnet (»clle iroi voAliumo clli3.mu.r6 lu
mocksrnu«), daß alle diese Meister im vollsten Sinne des
Wortes Söhne ihrer Zeit und Söhne einer jedesmal neuen
Zeit waren, bedars keiner Auseinandersetzung. Daß Dürer
und Holbein, die künstlerischen Zeugen der inneren, tiefen
Wahrheitsliebe des deutschen Resormationszeitalters, daß
Ribera und Murillo, die glühenden Vertreter der ver-
jüngten Glaubensinbrunst der päpstlichen Gegenresormation,
daß Velazquez und Frans Hals, die Wegweiser des frisch-
erwachten Natursinns eines neuen Jahrhunderts, nur aus
ihrer eigenen Zeit heraus zu verstehen sind, deren ganze
Gesinnung und Gesittung ihre Werke zurückstrahlen, hat
noch nie jemand bezweifelt. Daß auch Masaccio und
Giorgione, Schongauer und Grünewald, Rubens und Rem-
brandt, Herrera el viejo und Zurbaran, Watteau und
Hogarth kühne Neuerer waren, die der Kunst ihrer Zeit
 
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