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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI issue:
Heft 20 (2. Juliheft 1894)
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Bie, Oscar: Moderne Prosa
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0316

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gewirkt haben sie unendlich. Sie haben den Sinn für
Charakteristik in einer Weise geschärft, daß es heut oft
kauni möglich ist zu verstehen, wie gewisse Machwerke
srüherer Geschlechter, die des charakteristischen Sinnes so
ganz bar sind, jemals eine Rolle spielen konnten. Die
Charakteristik, welche zu einer Schablone, einer Typentabelle
geworden war, hat sich an srischer und an intimer Lebens-
beobachtung neu gestärkt. Und für die höchsten Ziele der
Kunst ist sie ja die Hauptsache. Das kam Allen zu gute:
dem Lyriker, dem Romandichter, dem Dramatiker, dem
Skizzirer.

Die Entwicklung der modernen Prosa hatte besonders
Nutzen von der steigenden Jntimität der dichterischen Em-
pfindung. Wo mehr Jntimität, da mehr Jndividualismus.
Man belauscht die zartesten Regungen, man weckt dunkel
schlnmmernde Gefühle, man sucht alle Nüancen hervor-
zukehren, Farbliches, Musikalisches, Traumhaftes, Mystisches,
was da so mitklingt und mitsingt. -Wie der moderne
Maler die Obertöne der Farben, als welche man Reflex-
lichter wohl bezeichnen kann, zu deutlicherer Sichtbarkeit
hervorzieht, so liebt es der moderne Schriftsteller, die
Obertöne der Empfindungen, jene leise heranfliegenden
Jdeenverbindungen, die jeden Vorgang in unsrer Seele be-
gleiten, mehr als es die Tradition wünschte zu unter-
streichen. Da aber jedes Organ sür Jntimitäten einen
andern Gesichtswinkel, ein andres Objektiv hat, so sind
Spaltungen und Vereinzelungen eine Notwendigkeit, und
mit der Anschauungsweise schillert die Darstellungsweise in
den mannigsachsten Stilarten.

Das war in vergangenen Zeiten nicht so. Bon dem
großen Schöpser moderner erzählender Prosa bis in die
Anfänge unsrer Epoche läßt sich eine stetig ablaufende
Linie versolgen. Der reinliche, sanste Stil Goethes und
die Novellistik eines Gottfried Keller, wie die Dichtung
eines Paul Heyse stehen aus einem Blatte. Wenn wir
nach dem Lesen eines echt modernen Prosastückes einen
Blick in Goethische Prosadichtung werfen, so umkost uns
eine ganz unerwartete Stille und Weichheit. Da ist alles
sauber nebeneinander gesetzt, alles „artig" an Fäden auf-
gezogen, und, während drunten aus dem Grunde des
Meeres vielleicht die furchtbarsten Erschütterungen und
Bodenveränderungen vor sich gehn, tanzen oben in ewig
heiterer Ruhe die leichtbeschwingten Wellen ihr anmutig
harmonisches Spiel. Eine wundersame Beruhigung strömt
von dieser Sprache aus — es ist, als ob der Dichter
lächelnd über all den tiefen Erregungen stände, die ihm
nur sanfte, epische Erinnerungen sind. Die olympische
Heiterkeit und geschmückte Reinlichkeit der Goethischen Prosa
mußte ja Schule machen. Aber sie wurde bald zu einer
Uniform, die allen Verhältnissen angepaßt wurde und
immer ihren Erfolg hatte, weil sie dem unsterblichen Be-
dürfnis diente, große Aufregungen zu genießen nur, wenn



fie täuschend unter der Hülle seidener, schmeichelnder Decken
sich zu bergen wissen.

Eine andere Bewegung ging von der Romantik aus.
Die romantische Prosa ist vielgestaltiger, aber dicker und
schwerer. Sie machte ihre Schule nach den verschiedensten
Himmelsrichtungen. Bald ließ sie ihr gefülltes Jdeen-
assoziationswerk sich wälzen, bald floß sie in tiefwühlenden
Strudeln unbefriedigter Sehnsucht dahin. Man denke an
Jean Paul, man denke aber auch an die mit der Schelling-
Hegelschen Gedankenwelt sich berührenden Theoretiker, an
den Schriftsteller Richard Wagner. Man kann es oft
beobachten: Musiker schreiben schwer und langatmig.
Psychologisch ist das sofort erklärlich. Sie komponiren
ihre Gedanken, sie setzen sie über- und untereinander; wie
sich-der Gedanke jedes Tones innerhalb der Kompofition
polyphonisch verwerten läßt, so lassen sie keiner Jdee ihren
Flug, pressen alles möglichst zusammen, was in der Fülle
des Gedankenblitzes ihnen zuschießt. Wagner schreibt
romantisch — sein dickflüssiger Stil ist voller Eigenart,
aber zerdrückt von jener polyphonen Unersättlichkeit, die den
Charakter seiner Stilverwandten insgesamt ausmacht.

Ein frischer Zug kam von Paris herüber. Dort hatte
man es endlich gelernt: glatt und doch vielsagend zu
schreiben. Man hatte die Meisterschast der Beherrschung.
Man setzte diese und jene Linie hin, fest und geistreich —
den Duft, den unbeschreiblichen, goß die Phantasie darüber.
Aus der Selbstverständlichkeit des Stils, seiner natürlichen
Flüssigkeit, die als Grundlage des modernen Schriftsteller-
tums Börne und Heine uns herüberbrachten, entwickelte
sich der Aphorismus. Es war ein knappes, überraschendes
Feuerwerk, das in dem Moment seines Aufleuchtens tieser
in die Seele hineinblicken ließ, als es jemals breite Schil-
derungen hatten thun können. Das brachte allüberall eine
große Umwälzung der Prosa hervor. Wir alle haben
daran gelernt.

Die modernen Prosaformen wuchsen auf diesem Boden
zu einer reichen Blüte empor. Der ganze Garten ist
schwer zu übersehen, so weit erstreckt er sich. Es wäre
das moderne Feuilleton zu schildern, das Meister wie
Holger Drachmann gesunden hat, die es hart an die
Grenze des „Gedichtes in Prosa" brachten. Dann dies
Gedicht in Prosa selbst — ein eigenartiges Erzengnis des
Skizzenstils, unendlich weit ausdehnbar über alle Fluren
des Denkens und Dichtens, weil es eben nur den Duft
jedes Gedankens giebt, seinen momentanen Rausch. Dann
wieder die etwas ausgedehntere Skizze nach der Novelle
zu: etwa eine kurze psychologische Entwicklung, nur leise
antippend an wirklich konkreten Geschehnissen, sonst nichts
als Fluktuation von Seelenregungen, wie sie Beer-Hofmann
neulich so meisterhaft gegeben hat. Oder endlich Bilder
aus jenem wunderbaren, noch mancher Entdeckung harrenden
Lande zwischen Wissenschaft und Kunst, wo der logische

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