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Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 3.1929

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Loos, Adolf: Das Sitzmöbel
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https://doi.org/10.11588/diglit.17291#0045

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PARISER KAFFEEHAUSSTUHL. Modell der So-
ciete induftrielle des meubles Multipl's Lyon

WOHNZIMMERSTUHL. Modell der Möbel-
fabrik Horgen - Glarus. Entwurf Max Ernft
Haefeli, Zürich

Und das finden Sie wunderfchön?" — „Ich habe mich geirrt, es gehört für Ober-
baurat Profeffor Otto Wagner, C.-M. (Klubmitglied), dem gröfjten Architekten
feiner Zeit." — „Dann ift es in der Tat wunderfchön." Die fchönfte malerifchefte
Ofteria mit dem echteften Schmurj wäre für andere Leute als italienifche Bauern
häßlich. Und da hätten die Leute recht.

Und (o ift es auch mit jedem einzelnen Gebrauchsgegenftande. Sind z. B.
die Seffel im Wagner-Zimmer fchön? Für mich nicht, weil ich fchlecht darauf
fitje. So wird es wohl allen anderen Leuten auch gehen. Es ift aber leicht
möglich, darj Otto Wagner fich auf diefen Seffeln fehr gut ausruhen kann.
Für fein Schlafzimmer, alfo einen Raum, in dem man keine Gäfte empfängt,
find fie daher, vorausgeferjt, dafj er bequem fifjt, fchön. Geformt find fie wie
die griechifchen Stühle. Aber im Laufe der Jahrtaufende hat die Technik des
Sirjens, die Technik des Ausruhens eine bedeutende Umänderung erfahren.
Sie ftand nie ftill. Bei allen Völkern und zu allen Zeiten ift fie verfchieden.
Stellungen, die für uns, man denke nur an die Morgenländer, äufjerft an-
ftrengend wären, können für andere Menfchen als ausruhen gelten.
Gegenwärtig wird von einem Seffel nicht nur verlangt, dafj man fich auf ihm
ausruhen kann, fondern auch, dafj man fich fchnell ausruhen kann. Time is
money. Das Ausruhen muffte daher fpezialifiert werden. Nach geiftiger Arbeit
wird man fich in einer anderen Stellung ausruhen müffen, als nach der Be-
wegung im Freien. Nach dem Turnen anders als nach dem Reiten, nach dem
Radfahren anders als nach dem Rudern. Ja, noch mehr. Aber der Grad der
Ermüdung verlangt eine andere Technik des Ausruhens. Diefelbe wird, um
das Ausruhen zu befchleunigen, durch mehrere Sifjgelegenheiten, die nach-
einander benurjt werden, durch mehrere Körperlagen und Stellungen ge-
fchehen müffen. Haben Sie noch nie das Bedürfnis gehabt, befonders bei
grofjer Ermüdung, den einen Furj über die Armlehne zu hängen? An fich ift
das eine fehr unbequeme Stellung, aber manchmal eine wahre Wohltat. In
Amerika kann man fich diefe Wohltat immer verfchaffen, weil dort kein Menfch
das bequeme Sitjen, alfo das fchnelle Ausruhen, für unfein hält. Dort kann
man auch auf einen Tifch, der nicht zum Effen dient, feine Fürje ausftrecken.
Hier aber findet man in der Bequemlichkeit feines Nebenmenfchen etwas
Beleidigendes. Gibt es doch noch Menfchen, denen man auf die Nerven
treten kann, wenn man die Füfje im Eifenbahnkupee auf die gegenüber-
liegenden Sitje ffreckt oder fich gar hinlegt.

Die Engländer und Amerikaner, die von einer fo kleinlichen Denkungsweife
frei find, find denn auch wahre Virtuofen des Ausruhens. Im Laufe diefes
Jahrhunderts haben fie mehr Seffeltypen erfunden, als die ganze Welt, alle
Völker mit eingefchloffen, feit ihrem Beftande. Dem Grundfarbe gemäfj, daf}
jede Art der Ermüdung einen anderen Seffel verlangt, zeigt das englifche
Zimmer nie einen durchgehend gleichen Seffeltypus. Alle Arten von Sitjge-
legenheiten find in demfelben Zimmer vertreten. Jeder kann fich feinen ihm

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