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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Mannheims Kunsthalle nach dem Kriege: (aus dem Tagebuch eines Heimgekehrten)
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0032

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im Sinne der Künstler des 19. Jahrhunderts, mochten sie nun fleckenhaft auflösend
oder alfmeisferlich linear sich gebärden* Wahrheit, Wirklichkeit — und hier entdecke
ich das zuleßt doch auch Zeitbedingte, in tieferem Sinne gewiß also „Expres-
sionistische“ dieser Bilder — ist Beckmann • nicht etwas an der Oberfläche der
Erscheinung Liegendes, sondern er will sie erst aus der Tiefe des Seins aufgraben
mit seiner pessimistischen Unerbittlichkeit. Beckmanns neuer Stil, so wie er mir
in dem Bilde »Christus und die Ehebrecherin« entgegentritt, ordnet die Farbe durch-
aus dem linearen Element unter, das zum Träger des Ausdrucks gemacht ist. Dies Li-
neare bestreitet den formalen Aufbau des Ganzen, Mit seiner eigenwilligen, knorri-
gen Verästelung und Verschneidung überzieht es die ganze Bildfläche, alles räumlich
tiefer Liegende durch eine altertümliche Perspektive mit in dieVorderebene zwingend
und in äußerster Bewußtheit zur kompositionellen Einheit verbindend. Und dieses Li-
neare wird an den Figurenzum Mittel, um dasWahre, Schicksalsmäßige einer Erschei-
nung mit einer bohrenden Übertreibung — diese Gelenke, diese Köpfe, diese Extre-
mitäten, diese Proportionen! — herauszuarbeiten, so wie die chargierende Art altdeut-
scher Meister es liebte, an die mich das Bild auch in seiner passionsspielhaften Drastik
gemahnt. Freilich, nur das schauerlich Packende der Lästerer und Spötter, die von
rechts und links ihre bösen Reden wie Giftpfeile auf das junge Weib herabsenden,
scheint von einer wiedererweckten volkstümlichen Mysterienbühne hergekommen.
Die beiden Hauptgestalten sind ohne Vorfahren in der Überlieferung. Ich kann
mir nicht helfen: dieser Christus, für dessen Angesicht der Maler einen ganz neuen
Typus fand, unendlich wissend, aber weniger durch Gnade, sondern durch un-
geheure Erfahrung undWillenszucht, ist mir kein antikerGott,vieleherein gnostischer
Magus, ein Yogi; indisches und christliches mischen sich in ihm. Während die zu
seinen Füßen zusammengesunkene, unter den Gemeinheiten der Lästerer vor Scham
buchstäblich klein, häßlich gewordene Ehebrecherin mit den wunderzarten Händen
das Gewand umklammert, von dessen Segenskraft sie zusehends stiller wird, fängt
er mit den wie hohl gehaltenen Händen die Fluchstrahlen der Bösen von beiden
Seiten ab. Habe ich zuviel hineingedeutet, wenn ich angesichts dieses Bildes —
gerade in seiner erzwungenen und schwer flüssigen Art etwas von mühseliger, unter
Qualen sich gebärender, neuer und wissender Religiosität zu erfühlen meine?
Vielleicht ist dennoch das »Bildnis der Schwiegermutter« das größere Kunstwerk.
Wohl weil eine solche Aufgabe heute weit besser lösbar ist, weil der Gegenstand
vertrauter und im Naturvorbild gegeben war. Die Wirkung ist spontaner, während
der religiöseVorwurf einen Künstler wie Beckmann nicht zu einer einfachen Gef ühls-
aussprache, sondern zu schwierigen Konstruktionen im Hinblick auf Empfindung
und Form treiben mußte. An einem hohen, breit ins Bild gerückten Fenster, durch
das man über einen nachtdunkeln Hof die erleuchteten Hinterhäuser ahnt, sißt
eine alte Dame im Lehnstuhl, die eine Hand liegt über ihrem Buch im Schoß, die
andere aufgesfüßt berührt ganz leicht das Kinn, Ein durch die Erfahrungen eines


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