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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Kayser, Rudolf: Goethes Grundzug
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0142

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GOETHES GRUNDZUG

RUDOLF KAYSER

Mir kommt vor, das sei die edelste von unseren Empfindunyen:
die Hoffnung auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur
allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben scheint.
Goethe, Zum Shakespearetag (1771).
Immer deutlicher wird, dab die politische und soziale Revolution Oberflächen-
erscheinung einer tieferliegenden kulturellen Krise ist. Der Besitztum geistiger
Werte, der uns seit der Renaissance überliefert ist und langsam aufhörte, von
starker, geistiger Leidensdiaft getragen zu sein, vielmehr sich in Bildung, esoterische
Geschichtskultur oder dumpfe Tradition auflöste — diese ganze geistige Erb-
schaft wird je problematischer, desto mehr die Zeit sich auf die wesentlichen mensch-
lichen Elemente besinnt. Dieser Situation gegenüber, von niemandem gewollt,
sondern wie ein Gewitter in die Geschichte hineingetrieben, gilt es, kritisch zu
sondern und nadizuprüfen, welche Werte wir in eine unter jeder Beleuchtung
unbestimmten Zukunft einreihen können. Nicht mehr genügt es, an Werte zu
glauben, weil Tradition, Bildungserlebnisse und Einstellungen von gestern sie
geheiligt haben. Zahlreicher Vorstellungen beraubt, die uns noch gestern als ewig
galten, hineingestellt in ein Ende, das als Anfang zunächst nur ein mattes
Leuchten ist, müssen wir uns daran gewöhnen, vieles von dem über Bord zu
werfen, was allzu sehr in geschichtliche Voraussehungen verankert ist. Von dieser
Erkenntnis ausgehend, stellen wir die Frage nach Goethes Grundzug. Es gilt
also nicht, aus historischen Einzelheiten und Feststellungen jenes Bild aufbauend
zu wiederholen, das wir von Goethe haben, sondern auf das elementar Geistige
in seiner Persönlidikeü zurückzugreifen, um so zu sehen, welche Geltungswerte
Goethes auch in der Zukunft noch wirksam sein werden.
Wir sind gewöhnt, Goethe wie jede grobe Persönlichkeit der Vergangenheit unter
doppeltem Aspekt zu sehen: als individuelle Gestalt und als Glied der Geschichte;
als Sein und alsTeil einesWerdens; als Punkt und als Schnitt-Punkt der geschicht-
lichen Kräfte. In beiden Beziehungen, unter dem Gesichtspunkt der personalen wie der
geschichtlichen Geltung, zeigt Goethe jenes Merkmal, das zu allen Zeiten das Genie
charakterisierte und heute mehr denn je höchstes Ideal menschlichen Schöpfer-
tums ist: das Merkmal des synthetischen Menschen. Wir sind der Spezialbegabung

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