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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Verweyen, Johannes Maria: Geistigkeit und Schöpferfreude
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0384

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GEISTIGKEIT
UND SCHOPFERFREUDE
PROF. JOHANNES M. VERWEYEN
/V m späten Silvester-Abend 1918 war die größte Kunsthalle Sachsens Zeuge
einer feierlidien Begebenheih Tausende von Menschen aller Klassen und
1 JLjStände pilgerten in die Leipziger Alberthalle, um den Klängen der Neunten
Symphonie unter Leitung des berühmten Nikisch zu lauschen. Ein zum Nach-
denken stimmendes Zeidien unserer wirrnisreichen Zeit. Ein Ausdruck des Ver-
langens nadi Erhebung aus dem Wüste der Tage mit ihrer Not und Sorge. Ein
verheißungsvolles Symptom, daß in deutscher Volksseele auch heute noch — troß
allem — der angestammte Sinn für Innerlichkeit schlummert und nach Erweckung
sich sehnt. Ein trostreiches Bild inmitten der allerorts sichtbar werdenden Ver-
rohung, der Gier nach grobem Genuß, der Jagd nach skrupellosem Erwerb. Jener
denkwürdige Abend darf allgemein als ein Ausdruck der Tatsache gedeutet werden,
daß der Genius des Deutschen seinem tiefsten Wesen nach gestimmt ist und bleibt
auf Geistigkeit und Schöpferfreude.
Mens agifat molem: der Geist ist es, der den Stoff bewegt. Dieses alte römische
Wort kann in mehrfachem Sinne als Leitsaß gelten. In weitester Bedeutung ist
Geistigkeit die Art des Menschen, der lebendigen Anteil nimmt, „interessiert ist“
an den Dingen des Geistes, das ist der Kultur. In engerem Sinne aber deutet
Geistigkeit auf eine gesteigerte Form des geistig gerichteten Menschen. Bloße
„Mentalität“, ein Inbegriff mehr oder weniger scharf ausgeprägter Denkweisen,
kann sich gegenüber strengeren Ansprüchen als durchaus ungeistig darstellen. In
schärfster Ausprägung zielt Geistigkeit auf Überwindung „stofflicher“ Gebunden-
heiten in dem ganzen Umkreise des Denkens, Fühlens undWollens. Der ungeistige
Mensch bleibt der „Materie“ unterworfen, wie verschieden diese immer sein mag.
Große Gelehrsamkeit ist möglich ohne „Intelligenz“ und schüßt nicht vor Geist-
losigkeit. Feststellung von Tatsachen, zumal wenn sie exakt-experimentell erfolgt,—
ein überaus wichtiges Erfordernis der Welterkenntnis und Weitgestaltung, aber
unzulänglich ohne organische Verknüpfung, ohne „geistige“ Verarbeitung! Die
bloße Summe von Wahrnehmungen ergibt noch keine „Erfahrung“. Und derzahlen-
mäßige Reichtum an Erfahrungen vermittelt an sich noch keine tiefere Einsicht,

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