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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Mersmann, Hans: Beethoven: Versuch einer Synthese
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0239

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BEETHOVEN
VERSUCH EINER SYNTHESE
HANS MERSMANN
Ein hundertfach gezeichnetes Bild soll nicht wiederholt werden. In von Jahr-
zehnt zu Jahrzehnt sich verschiebender Perspektive wurde er gesehen, von
den Zeitgenossen an, welche Einzelheiten zusammentrugen, bis zu uns,
die wir seinen Weg immer mehr, meist allzu bequem, als Einheit erschauen. Und
wie Abstand und zeitliche Entwicklung ein wechselndes Bild schufen, so schillerte
dieses Bild auch durch die verschiedene Blickhöhe der Betrachtung in bunter Viel-
farbigkeit. Ehrfurcht suchte ihn scheu und vergeblich, Frivolität und Lakaienhistorie
verunreinigte seine Züge, zünftige Wissenschaft zeigte ihn als schlechten Bürger
seinerZeit und alsVollender überkommener Geseke, Plattheit zog ihn zu sich herab,
und unreife Romantik umgab ihn mit dem südlichen Schimmer der »Mondschein-
sonate«.
Und mehr noch als sein Wesen entzog sich uns bislang der Kreis, dessen ragendes
Symbol die Summe seiner Werke ist. Man hat sie untersucht, verglichen und
periodisiert, gedeutet und mißdeutet. Und doch blieb man dabei meist geblendet
durch den Glanz und die Tiefe der Erscheinung und vergaß zu suchen, wofür das
Werk allein Sinnbild ist. Aber wo man es erkannte: das Menschentum seiner
pathetischen Zeit oder die kosmische Physiognomie seiner Spätwerke, fehlte die
Verschmelzung der Erkenntnisse zu der groben Einheit, welche durch sie
gegeben ist. Allein die stilgeschichtliche Betrachtung lielj die einzigartige Spann-
weite seiner Entwicklung ahnen, deren erste Zeit von dem Geiste des Barock bis
zur feingeschliffenen Ornamentik des Rokoko getragen wurde, deren mittlere Periode
allein die grolle Linie fand, um deretwillen man ihn klassisch nennen durfte, während
ihre Spätzeit einen wesentlich romantischen Stil nicht nur begründete, sondern bereits
bis zu lebten Möglichkeiten weiterführte. Einzelne Züge seiner lebten Werke ragen
wegweisend in das Suchen unserer Tage hinein. So sind, die ihn suchten, immer
wieder der Gefahr erlegen, nur Teile von ihm zu sehen, vor allem die Teile, welche
ihrer eigenen Einstellung entsprachen.
Die stilgeschichtliche Erkenntnis barg eine zweite Gefahr: sie trennte, statt zu


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