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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Dünwald, Willi: Der liebende Faust
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0536

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DER LIEBENDE FAUST

WILLI DUNWALD

Die Weife eines unendlichen Gefühls war ihm Führerin gewesen über die
wissenschaftliche Disziplin- und Buchsfabenwelf hinaus, das All begreifend
zu umfassen, die Welfrätsel lösen zu wollen; doch dasselbe unendliche
Gefühl in seiner Weife hafte ihn zugleich verführt, der irdischen Grenzen, die unserm
Streben und Erkennen gesetd sind, nicht zu achten, soda^ seiner Liebe zur Weit,
von der er erst als Hundertjähriger ein menschheitsgiiliiges Bekenntnis zu geben
vermochte, gleichsam die erlebte Gegenständlichkeit der Dingwelf fehlte. Im leiden-
schaftlichen Hinwurf der Jahre an ein inbrunstvolles Verlangen war ihm so die
Jugend passiert, um erst dann, als gereifter Mensch, erfahren zu müssen, dal^ er
nichts wisse und nichts wissen könne, weil Lebenserfassung durch Lebenserfahrung
ihm fremd geblieben. Der Erdgeist aber, den er sdiier verzweifelt dann angerufen,
war nicht zu beschwören und nicht zu zwingen, das Erfahrungsergebnis eines
Menschenlebens als eine Durchschniffsbilanz mifzufeilen, um aus ihr Iheoreüsierend
Wurzeln zu einer Weltanschauung ziehen zu können. Wo ihm, Faust, aber das
Wirkliche so fremd geworden, dah er glauben muh, den Weg der Erlebnisse nicht
selbst mehr beschreiten zu können, bricht er, zweifelnd daran, die Welt je begreifen
zu können, in sich zusammen und ist angesichts der todbringenden Phiole in williger,
ja verzückter Bereitschaft, in das rätselhafte Jenseits der Unendlichkeit einzufauchen.
In dieser Bereitschaft aber, wo die Schwere des Lebens schon aufgehoben ist und
die Sinne sich schärfen und wahrnehmender sind denn je, in dieser Bereitschaft
vernimmt er die Osterbotschaft der Auferstehung und der Wiederverjüngung, eine
Botschaft, die er zuletd als Kind gehört und nicht verstanden hat und dann über-
hörte, Jahr um Jahr, in der Abwendung von allen sinnlichen Wahrnehmungen
dieser Welf. Nun aber sein erschwerter Körper dem Naturprozef^ der Erneuerung
nicht widersteht und der Klang der Osterbotschaft erinnerungsreich genug ist, den
Bezug zu finden zu der Kindheit naiv-froher Zeit der ungehemmten Hingabe an
der Dingwelt mannigfachste Gestaltung, ist ihm, einem Seligen, dem darob die
Träne quillt, das Tor auf getan zum Leben und Erleben.
Wo aber alles Leben und Erleben lehfhin im Geschlechtlichen kulminiert, damit
das Weifergeben, körperlkh und geistig, immerzu stattfinde als der eigentlich einzige
Sinn unseres flüchtigen Hierseins, orientieren sich bald auch Faustens Wünsche
an der Idealgesfalf eines Weibes. Nodi bevor seine leiblichen Augen sie gesehen,
erschaut er die, die ihn bewegen, die ihn entflammen und die ihm der Inbegriff
von allem sein könnte, was je ihn wünschend und verlangend gemacht, im Spiegel
seiner Seele. Und nicht bedenkt er das tiefe Rätsel in uns, einem Wesen verbunden

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