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DAS WIENER KUNSTJAHR 1920/21. Da
hier mit Rücksicht auf die besonders und eben
jetzt noch höhere Wichtigkeit Wiens für jede
wesTöstlich deutsche Kultursynthese den Ereig#
nissen in dieser Stadt regelmäßig Betrachtung
geschenkt werden soll, möchte ich einen ersten
Überblick über ihre gegenwärtigen Mittel und
Tendenzen geben. Wien kämpft mit heroischer
Energie in Wirtschaft und Kunst um unvermin#
derte Geltung. Die Wirtschaft verdorrt am
Stamm und blüht an fernen, unscheinbaren
Ästen — die Kraft dieser Kunstübung aber, die#
ses Kunstbesitzes ist nicht zu treffen, kaum zu
lähmen.
Die großen Konzertgesellschaften hatten mate#
riell ein gutes Jahr: Philharmoniker unter We i n #
gartner, in seiner Abwesenheit durch Schalk
vertreten, Konzertverein unter Loewe, Ton#
künstler unter Furtwängler, dem immer stür#
mischer geliebten ;»Gesellschaftskonzerte«unter
Schalk (und Schmeidel); Singakademie und
Philharmonischer Chor, von Oskar Fried und
Bruno Walter als Gästen geleitet. Das Rose#
Quartett mußte jeden Abend wiederholen und
eine zweite Reihe Konzerte ankündigen, die
Oper hatte und behielt ihre großen Sänger, frei#
lieh um den Preis immer längerer Gastspiel#
Urlaube, und selbst Weingartners Volksoper
blühte, wenn Weingartner in Wien war. Rechnet
man die vielen Ausstellungen, die Wiener Re#
vuen, die Verlagstätigkeit hinzu (allein die
Universal#Edition, aber auch immer zahlreichere
Buchverleger!) so läßt sich beiläufig ein Bild der
schier unglaublichen Geschäftigkeit erlangen,
aber auch der großen Bedeutung, die diese Stadt
noch in ihrem Niedergang behält.
Das Ausland, und ganz besonders das im Kriege
»feindliche«, hat diese Bedeutung denn auch
sofort wieder erkannt, lebhafter als etwa die
deutsche Mitwelt. Neutrale und ehemals feind#
liehe Blätter bringen regelmäßig große Berichte
über Wien als Kunststadt. Vor allem aber: es kam
viel Besuch nach Wien. Reste einer im Sommer
verunglückten italienischen Stagione erhielten
sich, ihr Kapellmeister G ran eil i dirigierte hier
Konzerte; Maurice Ravel wurde in zwei Kon#
zerten als Komponist herzlich gefeiert; Ottorino
Respighi kam in den Philharmonischen Kon#
zerten zu Gehör, und gar Puccini, der hier zwei
Premieren sah, die »Schwalbe« an der Volks#
oper und an der Staatsoper die drei Einakter,
wurde durch Wochen der Beherrscher aller
Opernbesessenen; denn Wien ist eine stark ro#
manische Musikstadt. Dann kamen Polen
(Szymanowski) und Schweden: Wiklund
und Atterberg als Dirigenten, dieser auch als
Komponist gefällig und gefallend, beide Werke
von Ture Rangström lebhafter Aufmersam#
keit anempfehlend. Alle und alles kam, nur
nicht die deutschen Komponisten, die jetzt füh#
ren und als Führer gelten: Erdmann, Scherchen,
Hindemith, selbst R. Stephan sind hier kaum
mehr als Namen.
Aber selbst die neuen Wiener Komponisten sind
dieses Jahr reichlich unbekannt geblieben. Die
Opernbühnen bleiben fast außer Betracht; am
meisten hatte noch die Staatsoper getan, indem sie
Korngolds »ToteStadt« und Bittners »Kohl#
haymerin« herausbrachte. Korngold ist inzwi#
sehen vielfach gewürdigt. Bittner hatte diesmal,
mit Unrecht, für sein liebenswürdiges Werk, die
richtige Volksoper, eine sehr schlechte Presse.
Aber auch im Konzert ging es dem jungen Kom#
ponisten nicht gut. Nur Egon Kornauth kam
mit neuen Klavierstücken, Wilhelm Groß, mit
Klaviervariationen und — welches Wunder —
mit zwei Orchesterstücken bei den Philharmo#
nikern zu Gehör; außerdem Hugo Kauder mit
einem sehr verheißungsvollen Streichquartett
undMaxSpringermit einigen umfangreicheren
Kompositionen. Aber hier ist es nun Zeit, des
Vereins für musikalische Privatauffüh#
rungen zu gedenken, den Arnold Schönberg
leitet. Er bietet seinen Mitgliedern wöchentlich,
mit Ausschluß jeder Kritik und jeder Öfifent#
lichkeit, neue Werke jeder Richtung, in sorg#
fältigst vorbereiteten Aufführungen, für deren
Qualität Schönberg selbst oder einer seiner
ältesten Schüler (Anton von Webern, Alban
Berg, Erwin Stein) nach vielen Proben bürgt;
Orchesterwerke werden am Klavier oder in
Kammerbesetzung gegeben. Halböffentlich ver?
anstaltete Schönberg vier von ihm geleitete Auf#
führungen seines »Pierrot lunaire«, eines Wer#
kes von erschütternder Größe und Neuheit und
— einen Abend, an dem vom Kammerorchester
des Vereins vier der schönsten Walzer von Jo#
hann Strauß in Einrichtungen Schönbergs und
seiner Schüler vollendet und herrlich gespielt
wurden. Nirgends in Wien und wohl auch kaum
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DAS WIENER KUNSTJAHR 1920/21. Da
hier mit Rücksicht auf die besonders und eben
jetzt noch höhere Wichtigkeit Wiens für jede
wesTöstlich deutsche Kultursynthese den Ereig#
nissen in dieser Stadt regelmäßig Betrachtung
geschenkt werden soll, möchte ich einen ersten
Überblick über ihre gegenwärtigen Mittel und
Tendenzen geben. Wien kämpft mit heroischer
Energie in Wirtschaft und Kunst um unvermin#
derte Geltung. Die Wirtschaft verdorrt am
Stamm und blüht an fernen, unscheinbaren
Ästen — die Kraft dieser Kunstübung aber, die#
ses Kunstbesitzes ist nicht zu treffen, kaum zu
lähmen.
Die großen Konzertgesellschaften hatten mate#
riell ein gutes Jahr: Philharmoniker unter We i n #
gartner, in seiner Abwesenheit durch Schalk
vertreten, Konzertverein unter Loewe, Ton#
künstler unter Furtwängler, dem immer stür#
mischer geliebten ;»Gesellschaftskonzerte«unter
Schalk (und Schmeidel); Singakademie und
Philharmonischer Chor, von Oskar Fried und
Bruno Walter als Gästen geleitet. Das Rose#
Quartett mußte jeden Abend wiederholen und
eine zweite Reihe Konzerte ankündigen, die
Oper hatte und behielt ihre großen Sänger, frei#
lieh um den Preis immer längerer Gastspiel#
Urlaube, und selbst Weingartners Volksoper
blühte, wenn Weingartner in Wien war. Rechnet
man die vielen Ausstellungen, die Wiener Re#
vuen, die Verlagstätigkeit hinzu (allein die
Universal#Edition, aber auch immer zahlreichere
Buchverleger!) so läßt sich beiläufig ein Bild der
schier unglaublichen Geschäftigkeit erlangen,
aber auch der großen Bedeutung, die diese Stadt
noch in ihrem Niedergang behält.
Das Ausland, und ganz besonders das im Kriege
»feindliche«, hat diese Bedeutung denn auch
sofort wieder erkannt, lebhafter als etwa die
deutsche Mitwelt. Neutrale und ehemals feind#
liehe Blätter bringen regelmäßig große Berichte
über Wien als Kunststadt. Vor allem aber: es kam
viel Besuch nach Wien. Reste einer im Sommer
verunglückten italienischen Stagione erhielten
sich, ihr Kapellmeister G ran eil i dirigierte hier
Konzerte; Maurice Ravel wurde in zwei Kon#
zerten als Komponist herzlich gefeiert; Ottorino
Respighi kam in den Philharmonischen Kon#
zerten zu Gehör, und gar Puccini, der hier zwei
Premieren sah, die »Schwalbe« an der Volks#
oper und an der Staatsoper die drei Einakter,
wurde durch Wochen der Beherrscher aller
Opernbesessenen; denn Wien ist eine stark ro#
manische Musikstadt. Dann kamen Polen
(Szymanowski) und Schweden: Wiklund
und Atterberg als Dirigenten, dieser auch als
Komponist gefällig und gefallend, beide Werke
von Ture Rangström lebhafter Aufmersam#
keit anempfehlend. Alle und alles kam, nur
nicht die deutschen Komponisten, die jetzt füh#
ren und als Führer gelten: Erdmann, Scherchen,
Hindemith, selbst R. Stephan sind hier kaum
mehr als Namen.
Aber selbst die neuen Wiener Komponisten sind
dieses Jahr reichlich unbekannt geblieben. Die
Opernbühnen bleiben fast außer Betracht; am
meisten hatte noch die Staatsoper getan, indem sie
Korngolds »ToteStadt« und Bittners »Kohl#
haymerin« herausbrachte. Korngold ist inzwi#
sehen vielfach gewürdigt. Bittner hatte diesmal,
mit Unrecht, für sein liebenswürdiges Werk, die
richtige Volksoper, eine sehr schlechte Presse.
Aber auch im Konzert ging es dem jungen Kom#
ponisten nicht gut. Nur Egon Kornauth kam
mit neuen Klavierstücken, Wilhelm Groß, mit
Klaviervariationen und — welches Wunder —
mit zwei Orchesterstücken bei den Philharmo#
nikern zu Gehör; außerdem Hugo Kauder mit
einem sehr verheißungsvollen Streichquartett
undMaxSpringermit einigen umfangreicheren
Kompositionen. Aber hier ist es nun Zeit, des
Vereins für musikalische Privatauffüh#
rungen zu gedenken, den Arnold Schönberg
leitet. Er bietet seinen Mitgliedern wöchentlich,
mit Ausschluß jeder Kritik und jeder Öfifent#
lichkeit, neue Werke jeder Richtung, in sorg#
fältigst vorbereiteten Aufführungen, für deren
Qualität Schönberg selbst oder einer seiner
ältesten Schüler (Anton von Webern, Alban
Berg, Erwin Stein) nach vielen Proben bürgt;
Orchesterwerke werden am Klavier oder in
Kammerbesetzung gegeben. Halböffentlich ver?
anstaltete Schönberg vier von ihm geleitete Auf#
führungen seines »Pierrot lunaire«, eines Wer#
kes von erschütternder Größe und Neuheit und
— einen Abend, an dem vom Kammerorchester
des Vereins vier der schönsten Walzer von Jo#
hann Strauß in Einrichtungen Schönbergs und
seiner Schüler vollendet und herrlich gespielt
wurden. Nirgends in Wien und wohl auch kaum
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