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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Friedlaender, Salomo: Der Antichrist
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0394

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DER ANTICHRIST

DR S. FRIEDLAENDER

Das »Ecce homo« des Friedrich Nkßsche, der größte Selbstruhm, den sidr jemals ein
Mensch gespendet hat, war eine Selbstvergötterung sondergleichen. Sehr bald darauf
ist Nießsdres Geist, wie man sagt, gestört worden, d. h. er stellte seine gewohnte
Funktion ein und starb bei Lebzeiten Niehsdres langsam ab. Die Vermutung, daß hier nichts
als Größenwahn vorliege, hat für den sogenannten gesunden Menschenverstand, der besser
gemein, gewöhnlidr genannt werden sollte, eine zu große Wahrscheinlichkeit, die noch von Irren-
ärzten bekräftigt wird, als daß man sidr nicht bestreben müßte, sie zu entkräften, wenn man
Nießsdre jenem Verstand überlegen findet. Gewöhnlidre Normalität ist ja ein Mittelniveau
zwischen dem, was über, und dem, was unter ihr ist: man muß also Urteilskraft aufbieten, um
zu entscheiden, ob eine ungeheure Selbsteinschäßung über- oder untergewöhnlich sei. Die Tat-
sadre, daß etwas nidit normal sei, ist also zweideutig. Audr ist der Fall, daß jemand deshalb
unter die Norm abstiirze, weil er unmittelbar vorher hoch über ihr gewesen war, so wenig
auszuschließen, daß vielmehr gerade dieser Fall zum Normalfall wird: auf hohen Gipfeln,
sagt Goethe, erhält man sidr nidrt lange: „hinter den großen Höhen folgt auch der tiefe, der
donnernde Fall“. Aber mehr nodr: das Bewußtsein eigner Größe, das göttlidre Selbstbewußtsein,
ist nidrt nur in keinem Fall ein Wahn; sondern das Nidrt-Innewerden der absolut göttlichen
Bedeutung des eignen Innern gehört zum Kleinheitswahn, der verbreiteter und gcfährlidrer ist als
jeder Wahn der eignen Größe, der ja nidrt in einer Ubersdräßung des eignen Subjekts besteht:
man kann dieses nidrt lrodr genug sdräßen; der Respekt vor sich selbst ist die unentbehrlidre
Vorausseßung aller sonstigen Respekte. Wenn einst alle übrige Autorität verspottet und ver-
nidrtet sein wird, so wird die edrte Autorität des edrten Selbst, das nirgends außen, sondern
rein innerÜdr ist, genügen, unr alle andern Autoritäten auf dieses allein einsturzsidrere Fundament
des unfehlbar Innern zu sfüßen. Wenn wir sterben, behalten wir zuleßt nidrts übrig als diesen
unverlierbaren Besiß, aber mit ihm audr die gewisseste Garantie zur Neusdraffung alles sonstigen.
Wir sollen in diesem alles entsdreidenden Punkte selbständig sein: eigne Unabhängigkeit ist geradezu
Magie! sie ganz allein, reinst entwickelt, kann dazu führen, daß wir sdrließlidr auch äußerlich
zum Herrn alles Sdiicksals werden, weil und wenn wir eben innerlichst unerschüfterlidr sind.
Wie sollte also eigne selbstbewußte Größe, ja, Göttlichkeit Wahn sein! Sie führt erst
'dann zum Wahn und Irrsinn, wenn man sie unmittelbar und ohne Zögern mit leidrtsinniger
Mühelosigkeit aus etwas Innerem zu etwas Äußerem nradrt, auf etwas Äußeres überspringen
läßt. Es kann ja nidrt geleugnet werden, daß man sidr selbst zu einer großen Gefahr bildet,
wenn man beständig unter dem Hodrdruck des Selbstbewußtseins lebt; wer sidr nur für Müller
und Sdrulze hält, für irgend einen hergesdrneifen nrensdrlidren Leib, etwas belanglos Äußerliches,
lebt beträdrtlich harmloser, sdron deshalb, weil er blind leben will. Aber alle äußerlichen Sicher-
heiten sind trügerisch: sollte man die einzige absolut unfehlbare deswegen aufgeben, weil sie
äußerlich garnidrts ist und innerlich die allerdings furdrtbare Gefahr ihres Mißbraudrs, ihres sidr


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