VON DICHTERISCHER EIGENART
HEINRICH LEIS
Ein pädagogisch-wissenschaftliches Bedürfnis zu messen, zu vergleichen und
abzuwägen hat zu einer Einordnung der gestaltenden Künstler in Gruppen,
Klassen, Weltanschauungstypen geführt. Vom Literaturforscher oder dem
kunstausübenden Dilettanten ersonnen, geht der Zwang der Zusammenfassung
unter ein — gröbere oder geringere Verwandtschaft verschiedener Individualitäten
einbegreifendes — Schlagwort im Grunde auf einseitige Hervorhebung gemein-
samer Berührungspunkte zurück; der Sdiaffende selbst, soweit er naiv, das heilst
unmittelbar schöpferisch ist, kehrt sich wenig an das konstruierte Schema einer
Dichtergruppe, der etwa Mit- oder Nachwelt ihn zurechnen mag. Für den großen
Überblick der völkisch kulturellen Entwicklung aber, für die Einfügung des Dich-
ters in das geistige Gesamtbild seiner Zeit sind Schlagworte nicht zu entbehren,
als einigendes Element in der Vielheit auseinanderstrebender Willensformen und
Begriffe. Man darf sie nur eben in ihrer Bedeutung als Notbehelf nicht miß-
verstehen und muß dessen bewußt bleiben, dab sie, selbst wenn treffend gewählt,
immer nur für eine besondere Eigenschaft des Künstlers gelten, durch die er an
vielleicht erheblidi andersartige Wesenheiten Annäherung gewinnt. Die Einteilung
kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus geschehen, üblicherweise wird sie
ausgehen von dem Verhältnis des Schaffenden zu seinem Stoff. Es mag für den
kritischen Beurteiler ausschlaggebend sein, ob der Künstler, die Natur in Einzel-
zügen in sich aufnehmend, mit aller Buntheit und Vielfältigkeit des Kleinen und
Zufälligen sie nachbildet, realistisch, impressionistisch, oder ob er hinter dem Zu-
fälligen der Erscheinungsform das Gesetzmäßige, die Idee, sich selbst in den
Dingen sucht, also typisierend, expressionistisch (auch dieses mißverständlichste
Schlagwort zu nennen! Ist dodi jede Kunst, die durch das Medium des schöpfe-
rischen Einzel-Ichs geht, „expressionistisch", das heißt von innen, aus der Psyche
herauswirkend). Andere Teilung scheidet Romantik und Rationalismus, indem
Betrachtung von äußerer Welt, von Sinn und Folge des Geschehens, Grad der
Mischung von Geist und Gefühl im Dichtwerk Maßstab zur Einordnung gibt.
Möglich ist ferner eine Klassifizierung, die das seelische Wesen des Künstlers selbst
berücksichtigt, ihn apollinisch nennt, geklärt und in sich geschlossen, oder dyonisisch,
leidend an innerem Zwiespalt, ringend und quälerisch.
Innerhalb der einzelnen Gruppen nun bleibt Raum für die verschiedensten Emp-
findungsmöglichkeiten. Wie jeder, mit wachen Sinnen die Welt durchstreifende
Mensch hat in viel höherem Maße der Dichter gewisse Erlebnistypen und eine ihm
ganz eigentümliche, eingeborene Art der Anschauung. Jede Psyche ist gleichsam
ein Spiegel, in dem das Licht der äußeren Eindrücke mit vielfältiger Brechung sich
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HEINRICH LEIS
Ein pädagogisch-wissenschaftliches Bedürfnis zu messen, zu vergleichen und
abzuwägen hat zu einer Einordnung der gestaltenden Künstler in Gruppen,
Klassen, Weltanschauungstypen geführt. Vom Literaturforscher oder dem
kunstausübenden Dilettanten ersonnen, geht der Zwang der Zusammenfassung
unter ein — gröbere oder geringere Verwandtschaft verschiedener Individualitäten
einbegreifendes — Schlagwort im Grunde auf einseitige Hervorhebung gemein-
samer Berührungspunkte zurück; der Sdiaffende selbst, soweit er naiv, das heilst
unmittelbar schöpferisch ist, kehrt sich wenig an das konstruierte Schema einer
Dichtergruppe, der etwa Mit- oder Nachwelt ihn zurechnen mag. Für den großen
Überblick der völkisch kulturellen Entwicklung aber, für die Einfügung des Dich-
ters in das geistige Gesamtbild seiner Zeit sind Schlagworte nicht zu entbehren,
als einigendes Element in der Vielheit auseinanderstrebender Willensformen und
Begriffe. Man darf sie nur eben in ihrer Bedeutung als Notbehelf nicht miß-
verstehen und muß dessen bewußt bleiben, dab sie, selbst wenn treffend gewählt,
immer nur für eine besondere Eigenschaft des Künstlers gelten, durch die er an
vielleicht erheblidi andersartige Wesenheiten Annäherung gewinnt. Die Einteilung
kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus geschehen, üblicherweise wird sie
ausgehen von dem Verhältnis des Schaffenden zu seinem Stoff. Es mag für den
kritischen Beurteiler ausschlaggebend sein, ob der Künstler, die Natur in Einzel-
zügen in sich aufnehmend, mit aller Buntheit und Vielfältigkeit des Kleinen und
Zufälligen sie nachbildet, realistisch, impressionistisch, oder ob er hinter dem Zu-
fälligen der Erscheinungsform das Gesetzmäßige, die Idee, sich selbst in den
Dingen sucht, also typisierend, expressionistisch (auch dieses mißverständlichste
Schlagwort zu nennen! Ist dodi jede Kunst, die durch das Medium des schöpfe-
rischen Einzel-Ichs geht, „expressionistisch", das heißt von innen, aus der Psyche
herauswirkend). Andere Teilung scheidet Romantik und Rationalismus, indem
Betrachtung von äußerer Welt, von Sinn und Folge des Geschehens, Grad der
Mischung von Geist und Gefühl im Dichtwerk Maßstab zur Einordnung gibt.
Möglich ist ferner eine Klassifizierung, die das seelische Wesen des Künstlers selbst
berücksichtigt, ihn apollinisch nennt, geklärt und in sich geschlossen, oder dyonisisch,
leidend an innerem Zwiespalt, ringend und quälerisch.
Innerhalb der einzelnen Gruppen nun bleibt Raum für die verschiedensten Emp-
findungsmöglichkeiten. Wie jeder, mit wachen Sinnen die Welt durchstreifende
Mensch hat in viel höherem Maße der Dichter gewisse Erlebnistypen und eine ihm
ganz eigentümliche, eingeborene Art der Anschauung. Jede Psyche ist gleichsam
ein Spiegel, in dem das Licht der äußeren Eindrücke mit vielfältiger Brechung sich
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