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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Leis, Heinrich: Von dichterischer Eigenart
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0481

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reflektiert, und die Erlebnisbilder, geprägt von verschiedenen Wesenheiten, zeigen
alle zumindest kleine, gegeneinander abgetönte Nuancen auf. Dasselbe Ereignis,
von vielen miterlebt, wirkt grundverschieden im Eindruck. Man denke ein Beispiel
einfachster Art: Zwei Dichter, beide Realisten, beobachten und beschreiben das
Gewoge einer sehr belebten, mit Menschen und Fahrzeugen wimmelnden Strafe.
In dem Bemühen, das Wesentliche der in ihm erzeugten Stimmung auszugeben,
wird der eine etwa zu einer Wiedergabe optischer Eindrücke kommen. Er wird
ganz malerisch das Gemisch der Farben empfinden oder die Unrast flirrender
Bewegung; dieser oder jener zufällige Bruchteil des Erlebnisses wird stärker,
heftiger aus ihm hervorbrechen, geheimem Zwang seiner psydiischen Veranlagung
enfsprediend. Der andere aber wird den Gesichtseindruck des Chaotischen nur
als Stimmungsmoment nehmen, während seine Seele sich dem Nachlauschen der
vielfältigen Geräusche öffnet, akustische Empfindung für ihn also das Wesentliche
des Gesamteindrucks bleibt. Sdion Gedankliches bewußt oder unbewußt in die
Realität des Bildes hineintragend, könnte irgend ein dritter der Bewegung lebender
Massen die granitene Ruhe der Häuser gegenüberstellen, so bereits ein Bild er-
zeugend, das über den Komplex des unmittelbar Sinnlich-Wahrgenommenen
hinausführt. Und ebenso ist hier Mensch als Einzelwesen, dort Mensch als Masse
und Vielheit Erlebnistyp verschiedener dichterischer Eigenart.
Schilderung kann Selbstzweck sein, gegeben mit der Freude eines Malers an der
Buntheit des Schauens, oder vorwiegend Ausdruck einer Stimmung. Und eine
kurze Episode kündet, das Wesen ihres Schöpfers offenbarend, lyrische, erzählend-
beschauliche oder dramatisch-fortstürmende Art. Ein anderes Beispiel: Nacht-
stimmung. Eine leere, in müdem Grau verdämmernde Strafe, spärlich flackernde
Laternen. Breit schleifende Schaffen über dem Asphalt. Wieder wird in der bild-
lichen Beschreibung die besondere Wesenheit des Einzelnen erkennbar werden.
Frieden, Erlösung von Tag und Lärm empfindet dieser, behaglich einschlürfend
Ruhe und Dämmer, während jener in Starre und Traurigkeit des Dunkels friert,
umsdhauerf von Todgedanken. Aus physischer Veranlagung des kranken, schwäch-
lichen und nervösen oder des kernig-lebensvollen, blufgeschwellfen Körpers ergibt
sidi persönliche Eigentümlichkeit ebenso wie aus verschiedenen Erlebnisfypen der
Psydie.
Entscheidend für das Werk, mag es aus hellen oder dunklen Tönen gemischt, aus
der Natur erwachsen sein oder aus der Idee, bleibt immer die Stärke der Intuition.
Die Überzeugungskraft der poetischen Zusammenfügung gibt allein Wert und
Bedeutung. Natur und Idee, Verstand und Gefühl binden sidi irgendwie in jedem
echten Kunstwerk. Die Natur ist nicht forfzudenken als die Grundlage alles Ge-
sehenen, Gehörten, Erlebten. Die Idee aber belebt erst das tote Bild und bringt
der Zufälligkeit des Vielen einigend, vereinheitlichend Mal^ und Sinn. Den Grad
der Mischung beider Bestandteile im Schöpfertum des Einzelnen auszudeufen ist
Zwedc der Einreihung in Dichfergruppen. über Schema und Gruppe aber wächst

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