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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Metzger-Hoesch, Oskar; Wundt, Wilhelm [Honoree]: Ein Baumeisterlicher Denker: zu Wilhelm Wundts Todestag
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0392

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EIN
BAUMEISTERLICHER DENKER
ZU WILHELM WUNDTS TODESTAG
OSKAR HOESCH
Dem Warenhunger unserer Zeit entspricht auf geistigem Gebiet ein Ideenhunger, der sich bei
tieferen Naturen in einem lebhaften Interesse an Weltansdiauungsfragen äußert: Mit dem
modernen Geistesleben vertraute Männer sehen sogar eine Hegelrenaissance heraufziehen,
Eucken dringt in immer größere Kreise, die Diltheyschule wirkt tiefer, als es dem Außenstehenden
ersdieint, Simmel zieht troß seiner Schwierigkeit wahlverwandfe Geister an, die Theologen gedenken
endlich wieder der schwesterlichen Wissensdraft, und die philosophisdren Gesellsdiaften — allen voran
die Kantgesellschaft — blühen. Die jahrelange einseitige Einstellung des Geistes auf den Krieg, so
notwendig sie war, bringt jeßt eine Reaktion hervor: man verlangt nadi friedlich - geistiger, theore-
tischer Besinnung. Auf der andern Seite erzeugt nodi von Vorkriegszeiten her die intensive natur-
wissenschaftliche Arbeit einen gewissen Überdruß an exakt-experimentellen Untersudiungen: eine
ständig wadisende Menge von Volksgenossen stürzt sidi in jene neuromantischen, mystischen, theo-
sophisdien Strömungen, die sich nur zu einem kleinen Teil nodi überhaupt an den Grenzen der
wissensdiaftlidien Philosophie bewegen. Die Zukunft aber gehört der wissensdiaftlidien
Philosophie.
Mit Schmerz gedenkt man des baumeisterlichen Mannes, der von soldi höchster Warte aus wirkte,
Wilhelm Wundts, des am 31. August 1920 verstorbenen Leipziger Gelehrten. Er hat, unterstiißt
von dem Popularisierungstalent seines Sdiiilers Paulsen, ein wesentliches Verdienst am Wieder-
erwadien des philosophisdien Geistes in Deutsdiland, das uns auch die Hoffnung gibt, jene den
philosophisdren Schemen nadilaufendcn Zeitgenossen zurückzugewinnen.
Wundt ging aus von der Medizin und gelangte über Physiologie und Psydiologie zu einer Philo-
sophie, der man immer die Exaktheit des naturwissenschaftlidi arbeitenden Gelehrten anmerkt.
Die Naditeile, die aus dieser Orientierung hätten entspringen können, hat er in genialer, edit
philosophischer Weise zu Vorteilen umgebogen, und es ist beroditigf, wenn ein so strenger Kritiker
wie Külpe von ihm sagt: „Die Wundfsche Metaphysik ist wohl als die imposanteste, wissenschaftlich
ausgereifteste Form des Idealismus in der Gegenwart zu befraditen, die nach Methode und Gehalt
den wissensdiaftlidien Anforderungen am meisten entsprechen dürfte.“ In Hinblick auf Universa-
lität der Forschung kann man eine Linie ziehen von Aristoteles über Leibniz zu Wundt; er ist in
unserer sidi immer mehr spezialisierenden Zeit vielleidit der leßte, der es vermodite, in seiner „Logik“
eine Methodenlehre zu geben, die sidi auf so weit auseinanderliegende Gebiete erstreckt wie
Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Psydiologie, Philologie, Gesdiidite, Soziologie, Ethnologie,
Bevölkerungslehre, Staatswissensdiaften, Volkswirtschaft, Rechtswissenschaft und Philosophie.
Daher bringt auch seine Definition der Philosophie (z. B. in der „Einleitung in die Philosophie“
§ 2) eine Lösung, die dem Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissensdiaften geredit wird
und dodi auch das Bedürfnis der Zeit nadi einer Zusammenfassung der Geseße des menschlichen
Erkennens in einer allgemeinen Wissenschaft befriedigt: „Philosophie ist die allgemeine Wissen-
schaft, weldie die durch die Einzelwissensdiaften vermittelten Erkenntnisse zu einem widersprudis-


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