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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Kurz, Isolde: Wahrnehmungen aus dem Völkerleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0604

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WAHRNEHMUNGEN
AUS DEM VÖLKERLEBEN
ISOLDE KURZ

Die Nationalitäten sind kein Mißverständnis, das man aufheben kann.
Sie sind das Ergebnis landschaftlicher und klimatischer Einflüsse,
geschichtlicher Entwicklung und einzigartiger Blutmischung. Sie
sind aber zugleich ein Mittel, eine sinnreiche zweckvolle Notwendigkeit,
deren sich der Geist bedient, um die Menschheit vielseitig zu fördern.
Wenn alle Geister eines Volkes sich völlig ähnlich wären, so käme dieses
Volk nicht vorwärts. Wenn alle Völker des Erdballs nur ein Volk mit der?
selben geistigen Richtung und Anlage wären, so müßte die Menschheits?
entwicklung stecken bleiben.
Man glaubt gemeinhin von Volk zu Volk sich gegenseitig zu verstehen,
wenn einer die Sprache des andern gelernt hat. Aber nur bei den konkreten
Dingen gehen die Worte restlos ineinander auf. Das feine seelische ist nicht
zu übertragen. Läßt sich auch Ehre mit honneur übersetzen, Liebe mit amour?
Nur im Wörterbuch, das für den Gebrauch der Schüler bestimmt ist.
Der Deutsche steht immerzu dem Geist und seinen unerschöpflichen Pro?
blemen gegenüber, der Italiener der ebenso unerschöpflichen Natur, der Fran?
zose der Gesellschaft.
Nur bei einem Volke, das gewohnt ist, sein Leid vom Herzen zu singen,
konnte die sprichwörtliche Redensart entstehen: Mach Dir einen Vers
darauf.
Auch das Wort »Stunde« für Unterricht bezeichnet die Geistesrichtung des
Deutschen, der durch Lernen seine Zeit am Besten angewendet fühlt.
Das deutsche Lied umschließt das ganze tausendgestaltige Menschenleben,
während das der Romanen sich fast ausschließlich um die Liebe der Ge?
schlechter rankt.
Das Allerbezeichnendste, was die Völker haben, sind ihre Sprichwörter. In
denen der Italiener steckt höchste Lebens kl u gh e it, sie sind immer prak?
tisch verwertbar, ohne Überblick übers Ganze. In den deutschen tiefste
Lebensweisheit. Sie sind Wegweiser im Sittlichen, sind geistige Erkennt?
nisse, immer aufs Ganze gerichtet, ohne jeden Wink für Erreichung irdischer
Zwecke.
Alle Lebensäußerungen eines Volkes gehören zu seinem Stil. Stil aber ist
Begrenzung. Allem Stilsicheren wohnt eine Ausschließlichkeit inne, die zu
sagen scheint: Wo ich nicht bin, hat die Welt ein Ende. Der Deutsche strebt
ins Unbegrenzte, daher seine geringe Stilsicherheit.

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