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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Verweyen, Johannes Maria: Vom Dreiklang der Lebenskunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0182

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Amt und zufälligem Träger, von Zielen einer Gemeinschaft und ihrer Vertretung
durch die jeweiligen Führer und Mitglieder bewährt sich sozial-ethische Groß-
zügigkeit.
Die Beurteilung und Gestaltung des eigenen Selbst, die Herrschaft des höheren
Menschen der Sehnsucht in uns, fordert ihrerseits die Erkenntnis des Wesenhaften
und Eigentlichen in unserer Natur. Grüblerischer und kleinzügiger Sinn verliert
sich an eigene Unzulänglichkeiten, neigt zu Wehleidigkeit und unfruchtbarer
Büßerstimmung, statt mit der Energie des Dennoch Niederlagen in Siege zu ver-
wandeln. Audi dem eigenen Selbst und seinen Endlichkeiten gegenüber wirkt
großzügige Lebensart aufbauend. Dieser positive Lebensglaube entspricht jener
kosmischen Großzügigkeit, die im Reiche des Lebendigen als Wille zur Gesundung
den Prozeß der Regeneration hervorruft. In allen ihren Erscheinungsformen wendet
sich Großzügigkeit gegen ein lebensfeindliches Schulmeistertum und starres Phi-
listertum.
Großzügige Erfassung aller Gegenstände und Lebensaufgaben bildet die Voraus-
setzung für die Bereitschaft, sich dem Notwendigen zu beugen. Sie vollendet sich
in dem Blick für das Notwendige und vervollständigt dadurch den Dreiklang
der Lebenskunst.
In der Seelengeschichte des Einzelnen wie der ganzen Menschheit setzt der Gedanke
der Notwendigkeit ein hohes Maß von geistiger Reife voraus. Nicht nur an dem,
was er für möglich hält, auch an dem, was er als notwendig — im Sinne des Ge-
gebenen oder Aufgegebenen — begreift, erkennt man Reife und Art eines Men-
schen. In mühevoller zäher Arbeit der Jahrhunderte und Jahrtausende überwand
die kritische Welterklärung die anfänglich verwirrende Fülle der Erscheinungen,
ordnete sie und entdeckte Notwendigkeit, wo die frühere Weltbefrachtung nichts
als ein tückisches, unberechenbares Spiel verborgener Kräfte und Mächte angenom-
men hatte. Immer mehr befestigte sich die Überzeugung, daß nichts im strengen
Sinne zufällig geschieht, sondern alles seine zureichenden Bedingungen und inso-
fern einer Notwendigkeit gehorcht. Die ganze sichtbare Natur erscheint dem
heutigen Naturerkennen als ein festes Gefüge von unverbrüchlicher Gesetz-
mäßigkeit. Der Blick für solche notwendigen Zusammenhänge bildet darum
die Vorbedingung naturwissenschaftlicher Einsicht. Indem er sich klärt, führt
er zu der bedeutungsvollen Unterscheidung zwischen unbedingter (absoluter)
und bedingter (hypothetischer) Notwendigkeit. Die „ewigen ehernen großen
Gesetze" der Natur scheinen alles Geschehen in eine unentrinnbare Not-
wendigkeit zu verstricken und ein absolutistisches Szepter zu schwingen. Aber
gleichwohl schließen sie die Möglichkeit eines richtig verstandenen Auch-anders
innerhalb gewisser Grenzen nicht aus. Es gibt einen Bereich des Naturgeschehens,
innerhalb dessen — wie beim Lauf der Gestirne — dieselben oder doch ähnlichen
Bedingungen und darum auch die entsprechenden Folgen in stetem Gleichmaß

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