wandelt, tanzt ln silbernem Reichtum über der Farbe
des Mittags, wandelt sdiwermüfig und gereinigt in
das Abenddunkel hinter aller Farbigkeit. Man kann
nur versuchen, den Reichtum Giacomettis mit solchen
Worten nachzumalen. Man wird ihn erfassen, wenn
man selbst die Fragwürdigkeit des Lebens gespürt,
wenn man aus den tausendVariationen impressionistischer
Malerei oder expressionistischer Akrobatik nach einem
ganz reinen und geistigen Ausdruck des Lebens getastet
hat. Audi die symbolische Kunst der vorangegangenen
Periode erscheint nach der Bekanntschaft mit dieser neuen
künstlerisdien Welt als äußerlichstes, als hochmütiges
übersteigern menschlicher Maße in eine problematische
Göttlichkeit. Aber wie rasdi werden Gößen aus Göttern!
Giacomettis Kunst ist bescheiden in allem Reichtum.
Sie drängt niemals den Menschen in das Blickfeld,
sie hat etwas von dem Staunen des Astronomen, der
die Unendlichkeit des Weltalls erkennt und niederzu-
schreiben wagt. Es ist nicht viel damit gewonnen, wenn
man diesen neuen künstlerisdien Geist einen Geist
der Abstraktion nennt. Im Gegenteil, hier wird gar
nicht mehr von einer bestehenden Welt abstrahiert;
hier wird eine neue Welt, ein neuer Gegenstand erst
in die Welt des irdisdien Lebens geseßt, ihr gesdienkf.
Und ich mödite in diesem neuen Geist, der sidi immer
stärker über die europäische Kunst ausbreitet, wenigstens
dort, wo er, wie in den Arbeiten dieses Sdiweizers,
Giacometti, so tapfer, rein und majesfäfisdi auf die
Erkenntnis einer seelischen Welt, einer Befreiung und
Läuterung unsrer künstlerisdien Begriffe geriditet ist
— ich möchte in diesem Geist den Geist des neuen
Europa erkennen, der hier seine sublime Form findet,
der aber auf der Ebene des Wirklidien, der Politik,
der menschlichen Beziehungen auch schon am Werk ist.
Die Periode, in die der Krieg nicht zuleßt die kleine
Sdiweiz gedrängt hatte, mußte das Materielle, das
Fehlende so über alles Maß steigern, wichtig machen,
daß Verteidigung und Abwehr am Plaß war. Hodler
hatte den impressionistischen Lindwurm, der in tausend
Farben schillernd, doch nur ein träger, wiederkauender
Hüter überlebten Lebens war, getötet; nun war ihm
die Brünne zu fest an den Leib gewachsen, nun ver-
sperrte ihm das Visier den Blick in die geistige Üppigkeit
des Lebens, und seine strenge und keusdie Form wird
zur Manier, zum Troß, versteift und vereist. Aber
ringsum ist der Mensdi der überkommenen Formen
satt geworden, er wirft sie ab, er läßt sich nidit mehr
unterdrücken, er will lieber durdi eine Periode der
Formlosigkeit, die sein Reichtum, seine Seligkeit ist,
hindurchgehen, als sidi von den äußerlidien Formen
länger einzwängen lassen. Nach aller Musiklosigkeit
der realistischen Vernunftepoche, nadi der Geseßmäßig-
keit und Abgezirkeltheit — die LIngeseßlidikeit, das
Verströmen, der Rausdi. Hodlers zeichnerische Kunst
konnte nodi der schweizer Geistigkeit von gestern
genügen, ja sie zusammenraffend spiegeln: heute ist
sie wie ein Petrefakt in einer Welt sich regender und
glühender, über die Grenzen wegschießender Farben-
freudigkeit. Wie unter den Völkern wieder, doch nun
auf einer neuen Stufe menschlichen Verstehens, die Grenzen
verwischt werden, die Gemeinsamkeit des Lebens unter
dem Himmel wehmütig und freudig zugleich erspürt
wird, so fallen audi in der Kunst die Schranken der
Kontur, des monumentalen Troßes und der heroischen
Gesinnung. Tiefer wird das Leben in der neuen geprüften
Seele, ihren farbigen Jubeln und Erschütterungen gefühlt,
als vor den babylonisdren Türmen vergangenen Geistes.
Die Menschheit liegt am Boden, aber wieviel spridit
dodr dafür, daß sie reidier geworden ist, als jene, die
den Himmel stürmen wollte. Daß in der jungen Sdiweiz
dies Gefühl lebendig ist, dies Bedürfnis nach Vertiefung
und Beseelung, diese Fähigkeit, an Stelle äußeren Monu-
ments innerlich erkämpfte Musik zu fotmen, heraus-
gewachsen ist, dafür legt das Werk des Malers Augusfo
Giacometti ein schönes und bedeutungsvolles Zeugnis ab.
WALDEMAR JOLLOS
BERLINER KUNSTEREIGNISSE. (Febr.)DieSonder-
abteilung der Nationalgalerie, die vor anderthalb Jahren
im früheren Kronprinzen-Palais eingerichtet wurde,
erfreut sich auch weiterhin eines auffallenden allgemeinen
Interesses, — es ergeben sidi hier die bei weitem höchsten
Besucherzahlen. Die leßte der in dem obersten, den
Expressionisten gewidmeten Stockwerk veranstalteten
Sonder-Ausstellungen bot eine umfangreiche Übersicht
über Ernst Ludwig Kirchners Werk. Bei Eröffnung
dieser Ausstellung hielt der Reichskunstwart vor ge-
ladenem Publikum über Kirchners Wollen einen Vortrag,
der die Erwartungen dieses Publikums auf das hödisfe
spannte. Trat man dann vor die Bilder selber, so fühlte
man: hier ist eine außerordentliche Kraft, — aber das
hinreißende, das unmittelbar überzeugende Erlebnis blieb
aus. Idi bin nidit in der Lage, Kirchner als eine Erfüllung
zu empfinden, dazu ist er viel zu sehr Kämpfer und
Grübler, dazu ist er viel zu ekstatisch aufgewühlt; er ist
einer der Sturmvögel vor der großen Kunstwende, aber
er ist uns doch schon einer der Leute von Gestern, den
wir wohl aditen und ehren, den wir aber überwinden
müssen! Nur ganz wenige der hier gezeigten Bilder
wirkten als elementare Notwendigkeiten, bei den meisten
fragte man sidi und andere ganz unwillkürlich: würde
nicht Schmidt - Rottluff oder Heckei oder Nolde oder
Pedisfein das gleidie Motiv viel größer gesehen, es viel
hinreißender gestaltet haben?! Das Spißig-Zergriibelte
in der Bildung seiner Menschentypen, der nicht klingende
Charakter seiner meist schmußigen, häufig durdi tote
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des Mittags, wandelt sdiwermüfig und gereinigt in
das Abenddunkel hinter aller Farbigkeit. Man kann
nur versuchen, den Reichtum Giacomettis mit solchen
Worten nachzumalen. Man wird ihn erfassen, wenn
man selbst die Fragwürdigkeit des Lebens gespürt,
wenn man aus den tausendVariationen impressionistischer
Malerei oder expressionistischer Akrobatik nach einem
ganz reinen und geistigen Ausdruck des Lebens getastet
hat. Audi die symbolische Kunst der vorangegangenen
Periode erscheint nach der Bekanntschaft mit dieser neuen
künstlerisdien Welt als äußerlichstes, als hochmütiges
übersteigern menschlicher Maße in eine problematische
Göttlichkeit. Aber wie rasdi werden Gößen aus Göttern!
Giacomettis Kunst ist bescheiden in allem Reichtum.
Sie drängt niemals den Menschen in das Blickfeld,
sie hat etwas von dem Staunen des Astronomen, der
die Unendlichkeit des Weltalls erkennt und niederzu-
schreiben wagt. Es ist nicht viel damit gewonnen, wenn
man diesen neuen künstlerisdien Geist einen Geist
der Abstraktion nennt. Im Gegenteil, hier wird gar
nicht mehr von einer bestehenden Welt abstrahiert;
hier wird eine neue Welt, ein neuer Gegenstand erst
in die Welt des irdisdien Lebens geseßt, ihr gesdienkf.
Und ich mödite in diesem neuen Geist, der sidi immer
stärker über die europäische Kunst ausbreitet, wenigstens
dort, wo er, wie in den Arbeiten dieses Sdiweizers,
Giacometti, so tapfer, rein und majesfäfisdi auf die
Erkenntnis einer seelischen Welt, einer Befreiung und
Läuterung unsrer künstlerisdien Begriffe geriditet ist
— ich möchte in diesem Geist den Geist des neuen
Europa erkennen, der hier seine sublime Form findet,
der aber auf der Ebene des Wirklidien, der Politik,
der menschlichen Beziehungen auch schon am Werk ist.
Die Periode, in die der Krieg nicht zuleßt die kleine
Sdiweiz gedrängt hatte, mußte das Materielle, das
Fehlende so über alles Maß steigern, wichtig machen,
daß Verteidigung und Abwehr am Plaß war. Hodler
hatte den impressionistischen Lindwurm, der in tausend
Farben schillernd, doch nur ein träger, wiederkauender
Hüter überlebten Lebens war, getötet; nun war ihm
die Brünne zu fest an den Leib gewachsen, nun ver-
sperrte ihm das Visier den Blick in die geistige Üppigkeit
des Lebens, und seine strenge und keusdie Form wird
zur Manier, zum Troß, versteift und vereist. Aber
ringsum ist der Mensdi der überkommenen Formen
satt geworden, er wirft sie ab, er läßt sich nidit mehr
unterdrücken, er will lieber durdi eine Periode der
Formlosigkeit, die sein Reichtum, seine Seligkeit ist,
hindurchgehen, als sidi von den äußerlidien Formen
länger einzwängen lassen. Nach aller Musiklosigkeit
der realistischen Vernunftepoche, nadi der Geseßmäßig-
keit und Abgezirkeltheit — die LIngeseßlidikeit, das
Verströmen, der Rausdi. Hodlers zeichnerische Kunst
konnte nodi der schweizer Geistigkeit von gestern
genügen, ja sie zusammenraffend spiegeln: heute ist
sie wie ein Petrefakt in einer Welt sich regender und
glühender, über die Grenzen wegschießender Farben-
freudigkeit. Wie unter den Völkern wieder, doch nun
auf einer neuen Stufe menschlichen Verstehens, die Grenzen
verwischt werden, die Gemeinsamkeit des Lebens unter
dem Himmel wehmütig und freudig zugleich erspürt
wird, so fallen audi in der Kunst die Schranken der
Kontur, des monumentalen Troßes und der heroischen
Gesinnung. Tiefer wird das Leben in der neuen geprüften
Seele, ihren farbigen Jubeln und Erschütterungen gefühlt,
als vor den babylonisdren Türmen vergangenen Geistes.
Die Menschheit liegt am Boden, aber wieviel spridit
dodr dafür, daß sie reidier geworden ist, als jene, die
den Himmel stürmen wollte. Daß in der jungen Sdiweiz
dies Gefühl lebendig ist, dies Bedürfnis nach Vertiefung
und Beseelung, diese Fähigkeit, an Stelle äußeren Monu-
ments innerlich erkämpfte Musik zu fotmen, heraus-
gewachsen ist, dafür legt das Werk des Malers Augusfo
Giacometti ein schönes und bedeutungsvolles Zeugnis ab.
WALDEMAR JOLLOS
BERLINER KUNSTEREIGNISSE. (Febr.)DieSonder-
abteilung der Nationalgalerie, die vor anderthalb Jahren
im früheren Kronprinzen-Palais eingerichtet wurde,
erfreut sich auch weiterhin eines auffallenden allgemeinen
Interesses, — es ergeben sidi hier die bei weitem höchsten
Besucherzahlen. Die leßte der in dem obersten, den
Expressionisten gewidmeten Stockwerk veranstalteten
Sonder-Ausstellungen bot eine umfangreiche Übersicht
über Ernst Ludwig Kirchners Werk. Bei Eröffnung
dieser Ausstellung hielt der Reichskunstwart vor ge-
ladenem Publikum über Kirchners Wollen einen Vortrag,
der die Erwartungen dieses Publikums auf das hödisfe
spannte. Trat man dann vor die Bilder selber, so fühlte
man: hier ist eine außerordentliche Kraft, — aber das
hinreißende, das unmittelbar überzeugende Erlebnis blieb
aus. Idi bin nidit in der Lage, Kirchner als eine Erfüllung
zu empfinden, dazu ist er viel zu sehr Kämpfer und
Grübler, dazu ist er viel zu ekstatisch aufgewühlt; er ist
einer der Sturmvögel vor der großen Kunstwende, aber
er ist uns doch schon einer der Leute von Gestern, den
wir wohl aditen und ehren, den wir aber überwinden
müssen! Nur ganz wenige der hier gezeigten Bilder
wirkten als elementare Notwendigkeiten, bei den meisten
fragte man sidi und andere ganz unwillkürlich: würde
nicht Schmidt - Rottluff oder Heckei oder Nolde oder
Pedisfein das gleidie Motiv viel größer gesehen, es viel
hinreißender gestaltet haben?! Das Spißig-Zergriibelte
in der Bildung seiner Menschentypen, der nicht klingende
Charakter seiner meist schmußigen, häufig durdi tote
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