Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

DOI Artikel:
Schmid, Paul: Ru
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0612

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
RU

PAUL SCHMID

Reglos, in der Vermummung einer rötlichen Wolke, schwamm der Lieblingsengel Gottes,
die Engelin Ru, über dem stahlblauen See. Ein leichter, abendlicher Wind lief in melo*
dischen Wellen durch das Zittergras der Heide und verlor sich summend in den wehenden
Puscheln des Schilfs. Der Spiegel des weiten Wassers blieb blank und ohne Trübung; und
so klar verdoppelte sich die Wolke, daß den Engel Ru eine unruhige Sehnsucht nach dem
Dunkel der fremden Tiefe ergriff. Wohl war er sich bewußt, ein lichter leichter Genius des
Himmels zu sein, und wenn er sich des veilchenblauen Äthers erinnerte und der türkisenen
Sterne seiner Heimat, überwog die Verachtung des feindlichen Abgrunds in seiner Seele.
Aber in flüchtigen Sekunden erkannte er doch, daß all das Herrliche, das er war, nur Bestand
hatte im Spiegel des unzugänglichen, dämonischen Dunkels, daß nur die lastende Schwere
der Erde dem wolkigen Wehen seiner schimmernden Flügel Sinn verlieh. Indem er sich im
Anblick seines Ebenbildes verlor, durchmaß er nicht ohne Angst die Gefahr der verlocken*
den Tiefe; er vergewisserte sich in scheuem Rückwärtsschauen, daß die schrägen Strahlen
der Sonne seinem Flügelrücken den Goldschmelz nicht entzogen und daß noch immer der
unaufhörlich hauchende Anruf Gottes die gespreiteten Schwungfedern erschütterte. Und
plötzlich war es ihm, als ob es kein Unten und kein Oben mehr gäbe; er wanderte hin und
zurück und verlor im verwirrenden Gefühl dieses Verkehrs den Auftrieb himmlischen Stolzes.
Nur noch ungewiß erinnerte er sich an den Grund seines Hierseins. Um den weißglühenden
I urm der letzten Verklärung schwebend, hatte ihn der dünne, rufende Geruch einer Seele
erreicht, die seines Beistands bedurfte, um den Widerstand der mittleren Lagen zu über*
winden. Der Geruch war so süß und von so himmlischer Färbung, daß der Engel unverweilt
und ohne Gott zu fragen die Fährte des Rufes durchflog und, angelangt, über dem Heidesee
reglos verweilte, die schwere tödliche Sekunde erwartend.
Erst als ein dünnes, verlorenes Abendgeläute über die silbernen Pappeln des Horizontes
heraufzog, friedlich vermischt mit dem Knarren einer sechsflügligen Mühle, besann sich der
erschrockene Engel seines Amtes und widerstand der Versuchung des Elements. Mit einem
halb erlösten, halb schmerzlichen Lächeln zog er sich in die reine und klare Ruhe des Wolken*
leibs zurück und breitete seine Augen aufmerksam über die Heide aus. Der rufende Geruch
nahm zu; es war wie das süße Gemisch eines sommerlichen Wiesenstraußes, der Einklang
von tausend Düften; er mußte von einer Seele ausgehen, die keiner Reinigung mehr bedurfte
und reif für den Kreis der holdesten Engel war. Und siehe, über die rötlichen Blumen der
Heide hüpfte die Seele herbei. Das Kleid des Leibes lag schon lose und wie verweht über
dem durchscheinenden Innen; ein blonder Schleier flatterte das Haar hinter ihr, fiel reich
über die Schultern und streifte das hohe, gelbe, wiegende Gras. Aber Ru sah, daß es nicht
das Hüpfen der Freude war; hinter dem flüchtigen Mädchen hob sich wie ein riesiger Schatten
die Angst, und manchmal, wenn der hellste, klagendste Schall des Glockenspiels durchbrach,
zitterte sie oder warf sich schluchzend um den knorrigen Stamm einer verkrüppelten Weide.
Händeschwingend, mit dem wilden Antrieb einer verfolgten Gazelle, den leicht werdendenLeib
mühelos in die Lüfte werfend, nach vorn, nach vorn, die rötlich überglühte Brust entblößend,
näherte sie sich dem See. Und wie beruhigt durch das große mütterliche Auge des Wassers,
legte sie zärtlich ihre zerrissenen Kleider ab und schritt nackt durch das Heidegesträuch den
See entlang. Ihre Bewegungen waren völlig gestillt; wenn sie sich neigte um Blumen zu

37*

579
 
Annotationen