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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Schmid, Paul: Ru
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0614

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»O Ru, du sollst nicht erschrecken, wenn ich das Schreckliche sage, wenn ich dir erzähle,
welche Angst mich verdunkelt und beschwert. Ru, der Andere, das ist mein Vater.«
Sylva küßte den Engel auf die Stirne:
»Du sollst alles hören, meine reine Schwester Ru. Du weißt es ja, Ru, ich habe Irgendeinen,
einen schönen, flüchtigen Freund geliebt, er war so stark, sein Leib ging wie eine Windsbraut
über meine Brüste und brach in den aufgewühlten Wirbel meines Blutes ein. Erschrickst du,
Ru, weil ich kaum seinen Namen weiß? Was sollte ich danach fragen? Ich habe in dieser
Stunde der Musik seiner Stimme gelauscht und ihm die zärtlichen Küsse alle zurückgegeben.
Oh, ich war still und dienstbar und willfährig; wie eine Laute, eine stumme, untüchtige Laute
war ich, die sich nicht rührte und ' ie doch erklang. Aber Ru, du weißt es, daß mein Vater ein
großer Priester ist: er hat buschige Brauen und eine schreckliche, scheltende Stimme. Er hat
mich geschlagen, Ru; du hast meinen Ruf gehört, als ich unter seiner Peitsche mich zum Tod
entschloß; hat denn der Donner seiner Stimme dein Ohr nicht erreicht? O sage, Ru, wird
mein Vater, der große Priester, bei Gott stehen; o Ru, ist es derselbe Gott, den mein Vater
verkündet und zu dem du mich führst? O Ru, mein Vater wird Gott überreden und ihm sagen,
daß ich seine sündige Tochter, daß ich eine Hure bin; er wird zur Rechten seines Gottes
stehen und mit der zischenden Rute meine Seele zerschneiden. O Ru, schütze mich, o Ru,
laß mich los.«
Der wahrhafte Engel aber, wie ein schwebender Bussard, hielt seine Schwingen reglos ge*
spreitet und schwieg. Er wehrte sich nicht mit unmerklicher Neigung glitt er durch die Ringe
der fallenden Spirale der Tiefe zu. Er konnte die süße Seele nicht trösten; er wußte, daß oben
der donnernde Priester stand, der Eiferer, der Wegbereiter, der Herold, der Fahnenschwinger
und Verkündiger göttlicher Macht. Die Erde rief, die dunkle, bedrohliche Hölle rief. Hinab;
er durfte die süße Seele nicht verlassen, er überhörte den Himmel, er haßte das Licht. Der
See spiegelte stahlblau sein Bild zurück; es wuchs, in seinen Händen die wehrlose, glückliche
Beute wuchs. Und wie er seine Arme öffnete, um die Last in den bergenden Schutz ihrer
Herkunft zu entlassen, hob sich ein perlmutternes Boot aus den Fluten empor. Vorne am Bug
erkannte er den kleinen, lachenden Teufel, der das Mädchen mit Hussa empfing. Es war,
als ob er es aus seinen Armen in seine Arme zurückgäbe; sie saßen sich beide gegenüber
und erkannten sich wie die Wolke ihr verdunkeltes Bild im Spiegel erkennt. Das Gelächter
des einen pflanzte sich auf den andern fort und klang hell und befreit. Ru! rief der eine vom
Bug und Ru! echote es von Backbord zurück. Aber zwischen den beiden, an den Mast gelehnt,
den weißen nachgiebigen Leib wie ein Segel in den Wind gestellt, stand die Seele Sylvas und
freute sich ihrer Niederkunft und ihrer neuen Wiege, die zwischen dem brüderlichen Teufel
und dem schwesterlichen Engel stand. Der Perlmutterkahn aber trieb dem goldenen Schloß
entgegen, das sich an derselben Stelle erhob, wo Silva sich bekränzt hatte. Und wie sie über
die klingenden Stufen schritten, Hand in Hand, eine seltsame Drei, strahlte eine wirkliche
Krone auf Sylvas Stirne und ein Kranz großer Rubinen umschlang ihre unwirklichen Brüste.
Ein Heer von süßen, teuflischen Engeln posaunte den Empfang. Ru aber erkannte sich, neben
Sylva sitzend, auf dem Thron aus Beryll. Er war nicht mehr der Lieblingsengel Gottes, die
Engelin Ru, er war nicht mehr das Spukbild der Hölle, der Teufel Ru, er war Ru, der Mensch,
er war Ru, Sylvas Gemahl. Und indem er ihre aufblühenden Lippen küßte, gründete er das
selige Zwischenreich all derer, welche die schrecklichen ATorte nicht begreifen, als da sind:
Sünde und Gnade.



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