es noch immer Leute gibt, die von außen her, ohne die gründlichsten Fachkenntnisse, die
Opernbühne erlösen möchten.
Eine Erlösung ist notwendig geworden. Auf welche Weise sie möglich sein kann, wird die
ganze Entwicklung der Oper überhaupt erst ergeben. Hier ist der Punkt, an dem sich das
Problem herauskristallisiert. Die moderne Opernregie geht naturgemäß von der modernen
Oper aus. Erst dann wendet sie sich den Aufgaben der Vergangenheit zu. Die moderne Oper
befindet sich zurzeit in einem Übergangsstadium allererster Ordnung oder besser Unordnung.
Die Wagnernachfolge hat abgewirtschaftet: die großen Persönlichkeiten der Vorkriegszeit
haben ihr Schaffen, soweit es entwicklungsgeschichtlich von Bedeutung ist, so gut wie ab*
geschlossen und stehen bereits als historisch eingereiht am Ende der Operngeschichte (bis
zum Jahre 1920 etwa): dies sind Richard Strauß, Hans Pfitzner und, in gebührendem Ab*
stand, Franz Schreker. Schreker wird die von überbegeisterter Parteiseite verkündete Synthese
des modernen Musikdramas nicht erreichen: dazu ist seine Musik nicht schöpferisch genug,
und seine Dichtung kaum etwas anderes als eine raffinierte Neuauflage des Verismus. Die
Schrekersche Oper in ihrer Gesamtheit enthält viel weniger Zukunftsmusik als etwa Strauß’
»Ariadne auf Naxos« und Pfitzners Werke seit der »Rose vom Liebesgarten«, sie ist eine mit
allen äußerlichen technischen Mitteln versehene, differenzierte Überzuckerung und Verfeine*
rung der neuitalienischen Richtung; hinter ihr (wie auch hinter Korngolds »Toter Stadt«)
glaubt man in einer fein erdachten Maske Puccini zu erblicken.
Der Expressionismus der bildenden Kunst und der Literatur beginnt auch auf die Oper einzu*
wirken. Die Musiker sind ja stets die letzten Glieder in der Aufnahme einer allgemeinen, geistig*
künstlerischen Richtung; das ist im ganzen Wesen ihrer Kunst begründet. Schreker ist nur ein
vermeintlicher, der Russe Mussorgsky, lange vorher, ein viel echterer musikalischer Expres*
sionist. Dichtungen expressionistischer Dichter hat bis j etzt nur Paul Hindern i th vertont, von
Kokoschka, Franz Blei und August Stramm. Die Aufführung wird zeigen, ob in ihnen etwas
Starkes schwingt, das in die Zukunft weist. Man soll in der Kunst nicht prophezeien; soviel je*
doch erscheint wahrscheinlich, daß auch der Expressionismus, als Modeerscheinung, nicht
seinem Wesen nach, die Erlösung für die moderne Oper nicht bringen wird. Diese scheint viel*
mehr ihr Heil von der Rückkehr ins Unwirkliche, ins Märchenland, zu erwarten. Die gelungen*
sten Opern der letzten Jahre, denen man mit einiger Gewißheit ein Bleiben verheißen darf,
sind entweder auf Märchendichtungen komponiert oder als Spielopern in bewußter Anleh*
nung an die vorwagnerische Oper konzipiert. Die zwei Hauptrichtungen des zukünftigen
musikalischen Dramas werden etwa durch die Schlagworte (die immer nur cum grano salis
zu verstehen sind) Mysterium und Musik kom öd i e anzugeben sein. Walter B raun fels’
»Die Vögel« bedeuten im Hinblick auf die symbolische Märchenoper bereits eine schöne
Erfüllung; ihre Herkunft ist Humperdinck; sie geht über Pfitzner, löst sich aber von
beiden los und sucht neue Wege in Dichtung, Musik und szenischer Darstellung. Die andere
Richtung, die der zweiten Seite der dramatischen Musik, der realistischen, shakespearischen
sozusagen, entspringt, hat noch kein entscheidendes Werk (seit Verdis »Falstaff«) gezeitigt.
Siegels »Herr Dandolo«, Noetzels »Meister Guido« sind Versprechungen, der junge Arthur
Kusterer kommt nun mit einem »Casanova« zu Wort, und — Richard Strauß schreibt eben*
falls eine komische Oper mit Dialog. Die Wege zum Heil sind erkannt, in der Absicht ist
man sich klar und hütet sich, in der Sackgasse der Wagnernachfolge wie in dem das Wsen
der Oper mißverstehenden Verismus zu enden. Die genialen Vorbilder bleiben Mozart und
Verdi. (Auch Gluck lebt wieder auf.)
Es ist klar, daß die moderne Opernregie nicht an der Entwicklung im einzelnen Vorbeigehen
kann. Die Inszenierung folgt der Mode und der Zeitströmung; wie nach dem Naturalismus
der Impressionismus die Bühnenausstattung beherrschte, so tauchen in den letzten Jahren
583
Opernbühne erlösen möchten.
Eine Erlösung ist notwendig geworden. Auf welche Weise sie möglich sein kann, wird die
ganze Entwicklung der Oper überhaupt erst ergeben. Hier ist der Punkt, an dem sich das
Problem herauskristallisiert. Die moderne Opernregie geht naturgemäß von der modernen
Oper aus. Erst dann wendet sie sich den Aufgaben der Vergangenheit zu. Die moderne Oper
befindet sich zurzeit in einem Übergangsstadium allererster Ordnung oder besser Unordnung.
Die Wagnernachfolge hat abgewirtschaftet: die großen Persönlichkeiten der Vorkriegszeit
haben ihr Schaffen, soweit es entwicklungsgeschichtlich von Bedeutung ist, so gut wie ab*
geschlossen und stehen bereits als historisch eingereiht am Ende der Operngeschichte (bis
zum Jahre 1920 etwa): dies sind Richard Strauß, Hans Pfitzner und, in gebührendem Ab*
stand, Franz Schreker. Schreker wird die von überbegeisterter Parteiseite verkündete Synthese
des modernen Musikdramas nicht erreichen: dazu ist seine Musik nicht schöpferisch genug,
und seine Dichtung kaum etwas anderes als eine raffinierte Neuauflage des Verismus. Die
Schrekersche Oper in ihrer Gesamtheit enthält viel weniger Zukunftsmusik als etwa Strauß’
»Ariadne auf Naxos« und Pfitzners Werke seit der »Rose vom Liebesgarten«, sie ist eine mit
allen äußerlichen technischen Mitteln versehene, differenzierte Überzuckerung und Verfeine*
rung der neuitalienischen Richtung; hinter ihr (wie auch hinter Korngolds »Toter Stadt«)
glaubt man in einer fein erdachten Maske Puccini zu erblicken.
Der Expressionismus der bildenden Kunst und der Literatur beginnt auch auf die Oper einzu*
wirken. Die Musiker sind ja stets die letzten Glieder in der Aufnahme einer allgemeinen, geistig*
künstlerischen Richtung; das ist im ganzen Wesen ihrer Kunst begründet. Schreker ist nur ein
vermeintlicher, der Russe Mussorgsky, lange vorher, ein viel echterer musikalischer Expres*
sionist. Dichtungen expressionistischer Dichter hat bis j etzt nur Paul Hindern i th vertont, von
Kokoschka, Franz Blei und August Stramm. Die Aufführung wird zeigen, ob in ihnen etwas
Starkes schwingt, das in die Zukunft weist. Man soll in der Kunst nicht prophezeien; soviel je*
doch erscheint wahrscheinlich, daß auch der Expressionismus, als Modeerscheinung, nicht
seinem Wesen nach, die Erlösung für die moderne Oper nicht bringen wird. Diese scheint viel*
mehr ihr Heil von der Rückkehr ins Unwirkliche, ins Märchenland, zu erwarten. Die gelungen*
sten Opern der letzten Jahre, denen man mit einiger Gewißheit ein Bleiben verheißen darf,
sind entweder auf Märchendichtungen komponiert oder als Spielopern in bewußter Anleh*
nung an die vorwagnerische Oper konzipiert. Die zwei Hauptrichtungen des zukünftigen
musikalischen Dramas werden etwa durch die Schlagworte (die immer nur cum grano salis
zu verstehen sind) Mysterium und Musik kom öd i e anzugeben sein. Walter B raun fels’
»Die Vögel« bedeuten im Hinblick auf die symbolische Märchenoper bereits eine schöne
Erfüllung; ihre Herkunft ist Humperdinck; sie geht über Pfitzner, löst sich aber von
beiden los und sucht neue Wege in Dichtung, Musik und szenischer Darstellung. Die andere
Richtung, die der zweiten Seite der dramatischen Musik, der realistischen, shakespearischen
sozusagen, entspringt, hat noch kein entscheidendes Werk (seit Verdis »Falstaff«) gezeitigt.
Siegels »Herr Dandolo«, Noetzels »Meister Guido« sind Versprechungen, der junge Arthur
Kusterer kommt nun mit einem »Casanova« zu Wort, und — Richard Strauß schreibt eben*
falls eine komische Oper mit Dialog. Die Wege zum Heil sind erkannt, in der Absicht ist
man sich klar und hütet sich, in der Sackgasse der Wagnernachfolge wie in dem das Wsen
der Oper mißverstehenden Verismus zu enden. Die genialen Vorbilder bleiben Mozart und
Verdi. (Auch Gluck lebt wieder auf.)
Es ist klar, daß die moderne Opernregie nicht an der Entwicklung im einzelnen Vorbeigehen
kann. Die Inszenierung folgt der Mode und der Zeitströmung; wie nach dem Naturalismus
der Impressionismus die Bühnenausstattung beherrschte, so tauchen in den letzten Jahren
583