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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Grohmann, Will: Rudolf von Labans "Welt des Tänzers"
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0620

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RUDOLF VON LABANS
»WELT DES TÄNZERS«
WILL GROHMANN

Ein Tänzer verkündet sein Evangelium, seinen Berge versetzenden Glauben von der Macht
des Tanzes, seine Weltanschauung aus dem Geiste des Tänzers. Viele Menschen gibt es
heute nicht, die guten Willens und voll Güte einem Stammelnden zuhören, der in echter
Prophetenart mit einer seltenen Besessenheit sein Weltbild predigt, manches nie aufhört zu
sagen, anderes nie völlig erklärt, in Gleichnissen beweist, die doch nur der Andächtige faßt,
in hundert Fällen sich irrt und als ein Schauender im Sinne Goethes doch recht hat. Neun*
zehnjährig geht Laban als Maler in die Welt, aber was er auch treibt, wo er lebt, nie verläßt ihn
die Leidenschaft, das Wesen des Tanzes zu ergründen, und einer der stärksten Jugendeindrücke
bleiben ihm die tanzenden Derwische, für die das Weltgeschehen ein Tanz der Sphären um
Gott ist. Von der kosmischen Tanzauffassung der Orientalen ist Laban manches geblieben,
wenn auch seine Tanzphilosophie eigenste Schöpfung wird. Wer ist für ihn überhaupt Tänzer ?
Die Antwort führt in den innersten Bezirk seines Denkens. Tänzer ist ihm jener Mensch,
der »seine Bewußtheit nicht einseitig aus den Brutalitäten des Denkens, des Gefühls oder
des Wollens schöpft, es ist jener Mensch, der klaren Verstand, tiefes Empfinden und starkes
Wollen zu einem harmonisch ausgeglichenen und in den Wechselbeziehungen seiner Teile
dennoch beweglichen Ganzen bewußt zu verweben trachtet«. Er steht bewußt über allen
Teilungen des Verstandes, er verwebt alle Anschauungsmöglichkeiten in einem einzelnen
Bewegungserleben. Ein Mensch erlebt beispielsweise einen Vorgang in der Natur. Ein Ge*
danke Gottes erwacht in ihm. Erlebt er die Spannung vollbewußt und weiß er sie seinem
Leben einzuweben, so ist er Tänzer, andernfalls Gelehrter, Priester, Träumer oder sonst
etwas. Der Tänzer setzt alle Eindrücke der Umwelt in körperlich*geistig*seelische Spannungen
um, alles in der Welt sieht er mit Spannungsgefühlen an, und überall findet er sie in der
organischen und unorganischen Natur. Dem tänzerischen Reigen der Vorstellungen sind ihm
alle großen Werke entsprungen, und im Wort Gottes sieht er eine Choreographie der Welt*
gesetze. Ohne weiteren Zusammenhang hatte Elisabeth Duncan eine Übertragung der Gravi*
tation des Weltalls auf das menschliche Individuum im Tanz behauptet; Laban überzeugt
systematisch vom innersten Zusammenhang zwischen Weltordnung und tänzerischem Ge*
schehen.
In fünf Reigen läßt Laban den naturgemäßen Entwicklungsgang zu tänzerischer Beherrscht*
heit erleben. Wer mit voraus bestimmten Erwartungen zu lesen beginnt, wird bald enttäuscht
sein. Es steht gar nichts Amüsantes in dem Buch. Ob der Tänzer daraus lernt? Vielleicht
nicht mehr als der Nichttänzer. Sich prüfen, sich besinnen auf recht Unzeitgemäßes, das bald
zeitgemäß werden möchte — im Tänzer der Zukunft. Das Buch hat auch nichts gemeinsam
mit den berühmten, von niemandem gelesenen italienischen und französischen Choreo*
graphien, den äußerlichen Versuchen, die Tanzsprache in Bildern und Zeichen festzuhalten.
Das Wesen der tänzerischen Bewegung selbst soll ergründet werden, woher es kommt, wohin
es geht. Wer aber je das Glück hatte, einen großen Tänzer zu sehen (sie sind seltener als
große Musiker), der wird aus dem Atem des Buches mehr verstehen als aus den Worten.
Der erste Reigen: Über den menschlichen Ausdruck. Das Wesen der Gebärde, ihre Ent*
stehung als Raumspannung, ihre Folge als Reigen, die Verschiedenheit ihrer Richtung, ihr

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