hängig vom Inhalt oder durch Übernahme uneignen Inhalts sich »formen« läßt, wie irgend
ein anderes Material.
Wenn unsre Professoren und Gymnasiasten dennoch die Kunst des Dichters nach Versmaßen
messen, Dichtgattungen statuieren und die Erfüllung technischer Postulate diskutieren, so
scheint uns dies wohl pedantisch und lächerlich — es spiegelt aber doch nur, was auch dem
Fortgeschrittensten durch die ästhetische Überlieferung der letzten Jahrhunderte unbewußt
in Fleisch und Blut übergegangen ist: daß wir an eine Technik der Dichtung glauben, an
eine vom Inhalt lösbare, gleichsam für sich bestehende Form: diese wird bejaht und voraus*
gesetzt, auch wenn man, wie die jüngere Generation es tut, sie zerschlägt — aber man gelangt
über sie hinaus nicht durch Unform, so wohl dies den durch falsche Form gebundenen Sinnen
eine Zeitlang tun mag; sondern durch die wahre, vom Inhalt untrennbare und deshalb nicht
technisch zu wertende Form. Um diese aber zu erkennen, wird der Betrachtende gut tun,
die heute als unwahr empfundene äußere Form in ihrer Bedingtheit aufzudecken.
II.
Wenn Dichtung bloßes Formwerden eines Inhalts in Sprache ist, so müßte es so viele Dicht*
formen geben, als es Dichtwerke gibt; und so viel Grundarten dichterischer Form, als Spra*
chen sind.
Die historische Wirklichkeit weist aber ein anderes Bild. Wohl zeigt jede Sprache im Ur*
sprung nur das eine ihr gemäße Gesetz, nach welchem dichterischer Ausdruck in ihr möglich ist:
um von dem nächstliegenden zu reden, so haben wir eine urgermanische freie Rhythmik
und eine griechische melodische, musikgebundene Metrik, die jede in sich vollkommen, aber
auch einander völlig fremd, unvergleichbar und unvermischbar sind. Blicken wir aber auf
unsere Zeit, so sehen wir einen bestimmten Schatz von Formen allen modernen Kultur*
sprachen gemein, wohl von jeder Sprache modifiziert, aber doch, als ein außer der Sprache
bestehender Formschematismus, allen zugänglich und in seinem Grunde übersprachlich oder
unsprachlich.
Bei genauerem Hinblicken enthüllt sich aber nur die deutsche Dichtung der letzten vier
Jahrhunderte als ein Dichten ohne Sprache, das heißt ohne eigene aus dem Geist der
Sprache geborene Form, als Erfüllung einer Fremdform. Diese Fremdform erweist sich als
einigermaßen natürlich dagegen den romanischen Sprachen, aus deren Vermittlung sie her*
stammt. Denn auch ihnen ist sie ursprünglich nur, soweit der römische Sprachkern es be*
dingen würde; dieser aber hat aus sich heraus, als lateinische Ursprache, gar keine Dichtform
geschaffen, sondern die von den Griechen ohne ihren Inhalt übernommenen Formen als
»reine« Form, als handzuhabende Technik, in sich erstarren lassen, und hierbei an Stelle der
sie rhythmisch und melodisch bedingenden Musik die Meßkunde einer durch nichts als
Wissen und Kunstverstand bedingten Metrik gesetzt, und sie ihren Tochtersprachen unter
den verschiedenartigsten Modifikationen vererbt.
Mag nun für die abgeleiteten romanischen Sprachen Dichtung nur möglich sein als erlern*
bare formale Technik, so bedeutet solche für eine ursprüngliche Sprache, wie die deutsche
sie ist, den Verlust eigener Art und eigenen naturgemäßen Ausdrucks. Das ist aber in Deutsch*
land seit der Rezeption der romanischen Kultur durch die Renaissance zur Regel geworden:
in immer neuen Formen ist aus der einen Quelle wesenfremder klassischer Poetik die Infek*
tion deutschen dichterischen Schaffens erfolgt: erst als lateinische Metrik italienischer Huma*
nisten; dann als Konvention französischer Klassik; dann, seltsam gemischt, aus der germanisch*
romanischen Mischsprache Englands, als formale Technik und naturalistische Unform des
Shakespeareschen Renaissancedramas; dann wieder als vermeintlich echte antike Form des
klassischen Neuhumanismus; schließlich als bunte Formensprache italienisch*französisch*
706
ein anderes Material.
Wenn unsre Professoren und Gymnasiasten dennoch die Kunst des Dichters nach Versmaßen
messen, Dichtgattungen statuieren und die Erfüllung technischer Postulate diskutieren, so
scheint uns dies wohl pedantisch und lächerlich — es spiegelt aber doch nur, was auch dem
Fortgeschrittensten durch die ästhetische Überlieferung der letzten Jahrhunderte unbewußt
in Fleisch und Blut übergegangen ist: daß wir an eine Technik der Dichtung glauben, an
eine vom Inhalt lösbare, gleichsam für sich bestehende Form: diese wird bejaht und voraus*
gesetzt, auch wenn man, wie die jüngere Generation es tut, sie zerschlägt — aber man gelangt
über sie hinaus nicht durch Unform, so wohl dies den durch falsche Form gebundenen Sinnen
eine Zeitlang tun mag; sondern durch die wahre, vom Inhalt untrennbare und deshalb nicht
technisch zu wertende Form. Um diese aber zu erkennen, wird der Betrachtende gut tun,
die heute als unwahr empfundene äußere Form in ihrer Bedingtheit aufzudecken.
II.
Wenn Dichtung bloßes Formwerden eines Inhalts in Sprache ist, so müßte es so viele Dicht*
formen geben, als es Dichtwerke gibt; und so viel Grundarten dichterischer Form, als Spra*
chen sind.
Die historische Wirklichkeit weist aber ein anderes Bild. Wohl zeigt jede Sprache im Ur*
sprung nur das eine ihr gemäße Gesetz, nach welchem dichterischer Ausdruck in ihr möglich ist:
um von dem nächstliegenden zu reden, so haben wir eine urgermanische freie Rhythmik
und eine griechische melodische, musikgebundene Metrik, die jede in sich vollkommen, aber
auch einander völlig fremd, unvergleichbar und unvermischbar sind. Blicken wir aber auf
unsere Zeit, so sehen wir einen bestimmten Schatz von Formen allen modernen Kultur*
sprachen gemein, wohl von jeder Sprache modifiziert, aber doch, als ein außer der Sprache
bestehender Formschematismus, allen zugänglich und in seinem Grunde übersprachlich oder
unsprachlich.
Bei genauerem Hinblicken enthüllt sich aber nur die deutsche Dichtung der letzten vier
Jahrhunderte als ein Dichten ohne Sprache, das heißt ohne eigene aus dem Geist der
Sprache geborene Form, als Erfüllung einer Fremdform. Diese Fremdform erweist sich als
einigermaßen natürlich dagegen den romanischen Sprachen, aus deren Vermittlung sie her*
stammt. Denn auch ihnen ist sie ursprünglich nur, soweit der römische Sprachkern es be*
dingen würde; dieser aber hat aus sich heraus, als lateinische Ursprache, gar keine Dichtform
geschaffen, sondern die von den Griechen ohne ihren Inhalt übernommenen Formen als
»reine« Form, als handzuhabende Technik, in sich erstarren lassen, und hierbei an Stelle der
sie rhythmisch und melodisch bedingenden Musik die Meßkunde einer durch nichts als
Wissen und Kunstverstand bedingten Metrik gesetzt, und sie ihren Tochtersprachen unter
den verschiedenartigsten Modifikationen vererbt.
Mag nun für die abgeleiteten romanischen Sprachen Dichtung nur möglich sein als erlern*
bare formale Technik, so bedeutet solche für eine ursprüngliche Sprache, wie die deutsche
sie ist, den Verlust eigener Art und eigenen naturgemäßen Ausdrucks. Das ist aber in Deutsch*
land seit der Rezeption der romanischen Kultur durch die Renaissance zur Regel geworden:
in immer neuen Formen ist aus der einen Quelle wesenfremder klassischer Poetik die Infek*
tion deutschen dichterischen Schaffens erfolgt: erst als lateinische Metrik italienischer Huma*
nisten; dann als Konvention französischer Klassik; dann, seltsam gemischt, aus der germanisch*
romanischen Mischsprache Englands, als formale Technik und naturalistische Unform des
Shakespeareschen Renaissancedramas; dann wieder als vermeintlich echte antike Form des
klassischen Neuhumanismus; schließlich als bunte Formensprache italienisch*französisch*
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