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eine in der Tönung beeinflusst wird durch die andere. Er lernt verstehen, was
Stimmung in der Farbe ist; er erkennt, dass die vollkommenste Schönheit auch
in dieser Hinsicht in der Natur zu finden ist. Ein solches Studium von Form
und Farbe führt zu einer Darstellungsweise, die bewusst und sicher eine gewollte
Wirkung erstrebt, es fuhrt also zur bewussten Technik, zur künstlerischen Hand-
schrift. Die letztere ist ohne Verständnis von Form und Farbe undenkbar. Die
Oberflächlichkeit erreicht Zufallswirkungen, Effekte — nie aber eine Handschrift.
Die Ausstellung in Berlin lehrte, dass der Zeichenunterricht nur
dann von Erfolg begleitet ist, wenn er das Interesse des Schülers
zu wecken und zu erhalten versteht; sie lehrte ferner, dass das
höchste Ziel, das Verständnis für künstlerische Auffassung und
die Erkenntnis des wahrhaft Schönen
nur erreicht wird durch ernstes W o 1 -
len, durch gründliches Studium vor
allem auch der Form. Die besten Ar¬
beiten zeigten als schönsten Schmuck
eine relative Korrektheit.
Als ein besonderer Vorzug der Aus¬
stellung sei noch hervorgehoben, dass sie ein
reines Bild von dem wirklichen Können der
Schüler gab. Dieser Ehrlichkeit der Aussteller
verdankte sie ihren grossen Erfolg. Der Besuch
war sehr stark, Angehörige der besten Gesell¬
schaft zeigten ihr lebhaftes Interesse für die¬
selbe. Herzog Ernst Günther von Schleswig-
Holstein lud einen Berliner Kollegen ein, mit
einer ganzen Klasse mehrere Tage in seinem
Schloss in Holstein Aufenthalt zu nehmen und
dort zu zeichnen. An dem offenkundigen Er¬
folge unserer preussischen Kollegen dürfen auch
wir uns freuen, er nützt der gemeinsamen
Sache. Auffallend war, dass das allgemeine
Interesse fast ausschliesslich den im systema¬
tischen Zeichenunterricht gefertigten Arbeiten
zukam, die Resultate des Phantasiezeichnens
wurden häufig mit Bemerkungen abgetan, wie:
„Das ist im Grunde genommen nicht viel mehr als Spielerei“. Es war ein bedeutender
Künstler, der dies sagte, derselbe hatte aber vorher seine rückhaltlose, beinahe
begeisterte Anerkennung über das Gesehene ausgesprochen. Auf die Gefahr hin, leb-
haftem Widerspruch zu begegnen, möchte ich hier meine persönliche Ansicht über das
Gedächtnis- und das Phantasiezeichnen aussprechen. Ein jeder kennt jene Periode
der Kindheit, in der die Phantasie ausserordentlich rege ist. Es ist die Zeit, an die
Goethe denkt bei dem bekannten Worte: „Kinder wissen aus allem alles zu machen:
ein Stab wird zur Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bündelchen zur
Puppe“. Wie jede andere Geistesgabe, so ist auch die Phantasie dem einen in klei-
nerem, dem andern in grösserem Masse gegeben. Das in dieser Hinsicht reich ver-
anlagte Kind offenbart dies nicht nur durch seine Freude am Zeichnen, sondern auch
Abbildung 3.
eine in der Tönung beeinflusst wird durch die andere. Er lernt verstehen, was
Stimmung in der Farbe ist; er erkennt, dass die vollkommenste Schönheit auch
in dieser Hinsicht in der Natur zu finden ist. Ein solches Studium von Form
und Farbe führt zu einer Darstellungsweise, die bewusst und sicher eine gewollte
Wirkung erstrebt, es fuhrt also zur bewussten Technik, zur künstlerischen Hand-
schrift. Die letztere ist ohne Verständnis von Form und Farbe undenkbar. Die
Oberflächlichkeit erreicht Zufallswirkungen, Effekte — nie aber eine Handschrift.
Die Ausstellung in Berlin lehrte, dass der Zeichenunterricht nur
dann von Erfolg begleitet ist, wenn er das Interesse des Schülers
zu wecken und zu erhalten versteht; sie lehrte ferner, dass das
höchste Ziel, das Verständnis für künstlerische Auffassung und
die Erkenntnis des wahrhaft Schönen
nur erreicht wird durch ernstes W o 1 -
len, durch gründliches Studium vor
allem auch der Form. Die besten Ar¬
beiten zeigten als schönsten Schmuck
eine relative Korrektheit.
Als ein besonderer Vorzug der Aus¬
stellung sei noch hervorgehoben, dass sie ein
reines Bild von dem wirklichen Können der
Schüler gab. Dieser Ehrlichkeit der Aussteller
verdankte sie ihren grossen Erfolg. Der Besuch
war sehr stark, Angehörige der besten Gesell¬
schaft zeigten ihr lebhaftes Interesse für die¬
selbe. Herzog Ernst Günther von Schleswig-
Holstein lud einen Berliner Kollegen ein, mit
einer ganzen Klasse mehrere Tage in seinem
Schloss in Holstein Aufenthalt zu nehmen und
dort zu zeichnen. An dem offenkundigen Er¬
folge unserer preussischen Kollegen dürfen auch
wir uns freuen, er nützt der gemeinsamen
Sache. Auffallend war, dass das allgemeine
Interesse fast ausschliesslich den im systema¬
tischen Zeichenunterricht gefertigten Arbeiten
zukam, die Resultate des Phantasiezeichnens
wurden häufig mit Bemerkungen abgetan, wie:
„Das ist im Grunde genommen nicht viel mehr als Spielerei“. Es war ein bedeutender
Künstler, der dies sagte, derselbe hatte aber vorher seine rückhaltlose, beinahe
begeisterte Anerkennung über das Gesehene ausgesprochen. Auf die Gefahr hin, leb-
haftem Widerspruch zu begegnen, möchte ich hier meine persönliche Ansicht über das
Gedächtnis- und das Phantasiezeichnen aussprechen. Ein jeder kennt jene Periode
der Kindheit, in der die Phantasie ausserordentlich rege ist. Es ist die Zeit, an die
Goethe denkt bei dem bekannten Worte: „Kinder wissen aus allem alles zu machen:
ein Stab wird zur Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bündelchen zur
Puppe“. Wie jede andere Geistesgabe, so ist auch die Phantasie dem einen in klei-
nerem, dem andern in grösserem Masse gegeben. Das in dieser Hinsicht reich ver-
anlagte Kind offenbart dies nicht nur durch seine Freude am Zeichnen, sondern auch
Abbildung 3.