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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 1.1907

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Heft VII (Juli 1907)
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Hahn, Gustav: Phantasiezeichnen
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Durch die These des Herrn Bender veranlasst...
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https://doi.org/10.11588/diglit.31624#0097

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77

beschränke, sondern überhaupt jede Phantasiebetätigung in Betracht ziehe, da nach meiner
Auffassung die theoretischen Grundlagen hier wie dort die nämlichen sind und darnach auch
die praktischen Folgerungen die nämlichen sein sollten. Die Sätze lauten folgendermassen :
1. Phantasie ist für mich die Fähigkeit, einen einmal wirklich stattgehabten oder nur
erdachten bezw. unterlegten Vorgang innerlich (wieder) zu schauen, mit der Kraft der Wahr-
heit, der Wirklichkeit zu schauen und also persönlich durchgeistigt wiederzugeben.
2. Diese Fähigkeit ist eine geistige Kraft, — zwar nicht die beste, aber doch unstrittig
die schönste — mithin entwicklungsfähig.
3. Sie ist ursprünglich nicht seltener (dabei natürlich ebenso abgestuft) als die übrigen
Geisteskräfte, hat also dasselbe Anrecht auf Ausbildung wie diese. Die Versuche hierin
mögen in ihrer Verkehrtheit (man hat noch zu wenig Erfahrung auf diesem Gebiet) einmal
zur Spielerei werden, im Grunde jedoch handelt es sich hier um eine pädagogische Pflicht.
4. Ihre erste Voraussetzung ist scharfes Beobachten der Wirklichkeit, des Lebens: wie
soll man schauen können, ohne beobachtet zu haben! Dieses wird im systematischen Zeichen-
unterricht gepflegt — soll auch im übrigen Unterricht gepflegt werden. Dazu tritt dann
gedächtnismässiges Festhalten der charakteristischen Erscheinungen.
5. Ihre zweite Vor¬
aussetzung ist starke
persönlicheTeilnahme,
ein innerliches Erleben
des Darzustellenden.*)
Dadurch gewinnt die
Darstellung jene per¬
sönliche Note, die
uns ein unerlässliches
Merkmal jeder künst¬
lerischen Frucht ist,
die erst den Beschauer
(Leser) zumMiterleben
zwingt. Auch das kann
der richtige Stoff und
die richtige Behand¬
lung zuwege bringen.
(Das Stellen von Auf¬
gaben ist also im
Grundsatz nicht zu be¬
anstanden.)
6. Phantasie ist
eines jener kostbaren Güter, die, einmal verloren, nie wieder zurückgewonnen werden. Ist
sie also infolge langer Nichtinanspruchnahme entschlummert oder durch verkehrte Behand-
lung erstickt, so vermag kein Gott sie wieder zum Leben zu erwecken.
7. Danach ist klar, wie die Phantasie erhalten und gepflegt wird: durch Schärfung
der Beobachtung, durch Verinnerlichung der Auffassung, durch Stärkung des Gedächtnisses
und hauptsächlich durch fortgesetzte Uebung in Aufgaben, die eine starke persönliche Teil-
nahme erwarten lassen. G. Hahn.
*) Die Notwendigkeit einer gewissen Gefühlsbeteiligung wird also nicht bestritten. Aber ich bestreite,
dass bei unsern Jungen in den Flegel- und Vorflegeljahren die inneren Voraussetzungen hieftir fehlen sollen.
Gerade in dieser Periode entwickeln sich die echten, tiefen Gefühle (wie sich überhaupt der ganze Mensch
in diesem Zeitraum entwickelt) und der trotzigste, verschlossenste Junge hat deren am meisten. Nur glaubt
der Knabe, der schon Mann sein möchte, sich ihrer schämen zu sollen ähnlich den völkerpsychologisch auf
derselben Stufe stehenden Barbaren neben den Griechen.. Und indem er wie jene das Gegenteil von dem
tut, was sein Gefühl ihm sagt, sucht er es vor der Welt zu verleugnen. Wäre tatsächlich kein Gefühl mehr
vorhanden, woher sollte es dann später wieder kommen? Denn auch die Gefühle zählen, wie die Gottesgabe
der Phantasie zu jenen zarten und kostbaren Pflänzchen, die einmal erstorben, nicht wieder zu erwecken sind
Nur Kraftnaturen mit aussergewöhnlich starker Illusion sind auch in dieser Hinsicht regenerationsfähig und
können — neben den oberflächlichen, bei denen es noch nie tief ging — im Ernst versichern: „Es küsset
so süss sich die Lippe der Zweiten, als kaum sich die Lippen der Ersten geküsst.“

Abbildung 2.
 
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