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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 1.1907

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Heft IX (September 1907)
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Kolb, Gustav: Der Kunstunterricht auf unseren niederen Seminaren und Gymnasien
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https://doi.org/10.11588/diglit.31624#0116

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muss schon vorher vorhanden und bei 20jährigen Menschen längst entwickelt sein. Das
heisst mit anderen Worten: Der auf das Gefühl wirkende Kunstunterricht muss womöglich
auf der Schule erteilt werden, damit sich der Unterricht an der Universität auf die Erziehung
zur methodischen Forschung und auf die reichere Anschauung und die Mitteilung der neuen
Forschungsergebnisse, die ja bei uns fortwährend im Flusse sind, konzentrieren kann. Jetzt
ist es meistens umgekehrt. Der Abiturient weiss eine Menge Details kunsthistorischer Art,
aber das, worauf es ankommt, um dessentwillen eigentlich all der historische Kram da isQ
was im Zentrum der ganzen Kunstanschauung steht, ist ihm in der Regel unbekannt.
Ich halte es nun für bedenklich, bei der Kunsterziehung mit den Werken der grossen
Meister anzufangen. Denn so wie diese selbst erst das Resultat einer langen vorausgegangenen
Lebensarbeit sind, müssen auch bei ihrem Verständnis gewisse psychische Faktoren voraus-
gesetzt werden, die nicht ohne weiteres vorhanden sind. Der erste dieser Faktoren ist eine
intime Kenntnis der Natur. Zu aller Kunst führt der Weg durch die Natur. Es gibt keine
Kunstform, die nicht entweder durch die materiellen Bedingungen der Technik oder durch
die Analogie der Natur ihre Erklärung fände. Diejenigen Künste, die keine eigentlichen
Naturnachahmungen sind, arbeiten unbewusst mit Naturanalogien, was unseren älteren Aesthe-
tikern ganz geläufig war und nur dem modernen ästhetischen Snobismus der Dekadenze ent-
fallen ist. Wer also keine Freude an der Natur hat, kann auch keine Freude an der Kunst
haben. Und wer die Natur nicht kennt, kann auch die Kunst, welche auf ihr fusst, nicht
verstehen. Hier findet alles Kunstverständnis die festen Wurzeln seiner Kraft.
In dieser Beziehung darf man nun viel hoffen von dem engen Verkehr mit der Natur,
den die herrliche landschaftliche Umgebung unserer Seminare ermöglicht, und von den regel-
mässigen Schulspaziergängen, die das in allen gesunden Reformen so fruchtbare Ministerium
Weizsäcker eingeführt hat. Ich möchte nun die Frage aufwerfen, ob diese Ausflüge, die ja
in erster Linie der körperlichen Gesundheit der Schüler und ihrem vertrauten Verkehr mit
den Lehrern dienen sollen, wohl auch ästhetisch immer so ausgenützt werden, wie das wohl
möglich wäre. Gibt es sehr viele Klassenlehrer, die bei solchen Gelegenheiten die Kinder
neben der naturwissenschaftlichen und geographischen Belehrung, die gewiss nicht vernach-
lässigt werden soll, auch auf den künstlerischen Reiz gewisser Baum- und Felsenformen,
auf die ästhetische Schönheit gewisser Beleuchtungen und Farbenzusammenstellungen auf-
merksam machen, die sich nicht begnügen, eine Blume, die ihnen ein Knabe bringt, durch
Einordnung in das Linne’sche System zu bestimmen, sondern den Finder auf ihre schöne
Form und Farbe hinweisen, d. h. sein Gefühl für erneute Eindrücke dieser Art empfänglich
machen.“
Des weiteren tritt der Verfasser dafür ein, dass künstlerische Kultur auch durch
„Erziehung zu schönen Bewegungen und einer schönen Sprache“ gepflegt werde. Auf diesem
Gebiet sehe es bei uns noch trostlos aus. Als drittes Mittel nennt er eine „künstlerische
Umgebung“. „Es gilt für den jugendlichen Geist ein Milieu zu schaffen, das durch seine
einfache Schönheit die künstlerischen Kräfte entbindet.“
„Endlich aber, last not least, fällt die künstlerische Erziehung dem Zeichenunterricht
zu. Das ist ganz natürlich. Denn der Zeichenlehrer ist der einzige Lehrer an allgemein
bildenden Schulen — abgesehen vom Musiklehrer —, der Künstler von Beruf ist oder wenig-
stens sein sollte. Und es leuchtet ohne weiteres ein, dass gerade das, was wir an Vorbe-
reitung für unsere Vorlesungen fordern, Kenntnis der Technik und Fähigkeit, künstlerische
Qualitäten zu erkennen, ein Künstler besser mitteilen kann als ein Laie. Auch in dieser
Beziehung ist neuerdings ein bedeutender Fortschritt zu verzeichnen. Endlich haben wir
ein staatliches Zeichenlehrerexamen, endlich die Möglichkeit einer künstlerischen Ausbildung
der Zeichenlehrer. Dass daneben auch der unkünstlerischen Ausbildung der Weg wie früher
offensteht, kann man bedauern, aber nicht ändern. Jahrzehntelang eingewurzelte Missstände
lassen sich nicht mit einem Schlage beseitigen. Einsichtigen Schülern und Eltern ist es auch
jetzt nicht schwer gemacht, bei der Wahl der Bildungsstätte das Richtige zu treffen.
Allein wie weit werden diese Möglichkeiten für unsere höheren Schulen ausgenutzt ?
An wie vielen Gymnasien sind noch Elementarlehrer ohne jede künstlerische Vorbildung
angestellt! Werden die künstlerisch begabten Zeichenlehrer gegenüber den Banausen wiik-
lic.h so gefördert, wie sie es verdienten? Betrachtet man sie nicht immer noch als unbe-
queme Neuerer, die man wohl gern einmal fühlen lässt, wie missliebig sie sind? Nimmt
der Zeichenlehrer im Kollegium die Stellung ein, die der Bedeutung seines Faches und seinen
Leistungen entspricht? Dass der humanistisch gebildete Lehrer auf ihn herabsieht, daran
mag er zuweilen wohl selbst schuld sein. Im allgemeinen ist es natürlich die Folge des
bekannten akademischen Bildungshochmuts, der vergisst, dass künstlerische Bildung auch
ohne Gymnasialabiturium der gelehrten völlig gleich steht. Jedenfalls ist sie die einzige,
der man die künstlerische Erziehung der Jugend mit Aussicht auf Erfolg anvertrauen kann.
Ein grosser Fortschritt ist auch durch den Anschluss an die neue gesunde Reform des
Zeichenunterrichts gemacht, d. h. durch die Verbannung der geisttötenden Vorlagen und
die Einführung einer freieren künstlerischen Darstellungsweise an Stelle des mechanischen
Nachpinselns nach der Natur. Alles das lässt für die Zukunft das Beste hoffen, und wir
können unsere Behörde nur zu diesen Reformen beglückwünschen, und vertrauen, dass sie
in dieser Richtung weiter fortfaliren wird.
Was soll nun neben diesen gesunden Reformen noch die Einführung eines besonderen
Unterrichts in der Kunstgeschichte? Wer soll diesen erteilen? Der Zeichenlehrer, zu dessen
 
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