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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 1.1907

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Heft XI (November 1907)
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Thiersch, Friedrich von: Künstlerische Erziehung der Techniker
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https://doi.org/10.11588/diglit.31624#0138

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damit er dem Werke durch Hinzufügung einiger unorganischer Kunstformen einen
künstlerischen Anstrich verleihe.
In solch’ krasse Irrtümer wird man heutigentags nicht mehr verfallen, wo
auch unter Laien anerkannt wird, dass der künstlerische Wert einer Ingenieur-
konstruktion schon in einer gut und richtig empfundenen Grundannahme liegt.
Als der Erbauer des Reichstagshauses Wallot in Berlin gefeiert wurde, sprach er
aus, dass für ihn der Anblick einer zweckmässig konstruierten und gut laufenden
Maschine geradezu ein ästhetischer Genuss sei.
Um von der Erziehung des hier geforderten künstlerischen Sinnes zu reden,
müssen wir zum Freihandzeichnen zurückkehren, denn keine Tätigkeit fördert so
sehr den schon in den konstruktiven Prinzipien liegenden Schönheitssinn, als die
Beobachtung der Natur. Erscheinungsformen und Bewegungen in drei-dimensionalem
Raum werden auf die zwei-dimensionale Ebene gefesselt und dies ist das einzige
Mittel, um sich dieselben dauernd anzueignen und stets in freier Art über sie zu
verfügen. Gewandtheit in der zeichnerischen Beobachtung fördert aber zugleich
die zeichnerisch freie Wiedergabe des räumlich Erdachten. Gerade in den ersten
Stadien des Konstruierens und Entwerfens ist die Freihandskizze besonders wertvoll.
Das feinere Gefühl für Verhältnisse und Raumverteilung ist noch unbehindert;
es wird noch nicht befangen von dem gebundenen: dem sogenannten technischen
Zeichnen. Auch die Vervollkommnung in gebundener Darstellung wird von dem-
jenigen schneller und besser erlangt, der mit der freien Hand geübt ist.
Dass schon in der Volksschule die allgemeine Intelligenz mit der besseren
Begabung im Zeichnen Hand in Hand geht, hat die Statistik nachgewiesen. Auch
bei höher entwickelten Leistungen ist zu konstatieren, dass einem guten graphischen
Vortrag durchschnittlich ein höherer geistiger Gehalt innewohnt.
Der Vorschlag, gewissen Gebieten in unserem Lehrprogramm mehr Raum zu
schaffen, zielt keineswegs auf eine Vermehrung der betreffenden Stunden ab. Wird
grössere Beweglichkeit in unserem freien akademischen Leben erlangt, so muss
zugleich an die persönliche Initiative der Studierenden appelliert werden, dass sie
den Raum ausnützen, um sich selbständig der höheren Güter des Lebens zu
bemächtigen.
Jeder von Ihnen, meine werten Kommilitonen, findet Gelegenheit, sich in
freundschaftlichem Verkehr mit gleichstrebenden und höherstehenden Männern der
Wissenschaft und der Kunst eine Fülle von Anregung zu verschaffen, die die
Hochschule nicht geben kann. Ganz besonders aber ist es dem studierenden Tech-
niker warm zu empfehlen, mit dem Skizzenbuch in der Hand die Schönheiten der
Natur und die Kunstschätze der Museen auszubeuten. Versäumen Sie nicht, gerade
in der empfänglichen Zeit der Studienjahre Ihren Horizont durch selbständige
Geistestätigkeit zu erweitern.
Wenn uns in der Praxis der Ernst des Lebens und der Kampf des Daseins
umfängt, so entzieht sich uns mehr und mehr der Zutritt zu diesen sonnigen Gebieten.
Auch die darstellende Geometrie hat neben ihrer rein wissenschaftlichen Be-
deutung eine eminent künstlerische Seite.
Kein Berufszweig bedarf so sehr des Vollbesitzes dieser Disziplin, als der
technische. Durch sie wird vorzugsweise das räumliche Vorstellungsvermögen so
geschärft, dass selbst schwierige Manipulationen höherer Art in Raum vorgenommen
werden können, ohne dass zeichnerische oder rechnerische Hilfe geboten wäre.
Aber auch abgesehen von der idealen Schärfung des sogenannten inneren
Auges ist die darstellende Geometrie als Parallelprojektion oder geometrische Dar-
stellung die natürliche Verbindungsbrücke zwischen Erdachtem und Ausgeführtem,
während sie als Zentralprojektion oder Perspektive das populär fassbare Bild des
Räumlichen gibt. Eine liebevolle und individuelle Ausgestaltung dieser Disziplin,
welche in gleichem Masse wissenschaftliche Probleme und praktische Verwendbarkeit
zu berücksichtigen hat, sollte dem eigentlichen Hochschulunterricht vorausgehen.
Von der grösseren Freiheit in künstlerischen Disziplinen würde auch das Modellieren
Nutzen ziehen.
 
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