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rauscht, die mehr ift als gedanklich zu erklärendes
Vermögen, das ihn nur cin klelnes Stück auf dem
Wege des Erfassens begleiken kann und muß, bis
ihm aus diesen Gebilden der Hauch des „Urgenius"
enlgegenweht, den er auch tn Millionen jahrealter
Festigkeit des Steines, in der Dehnung und Span-
nung der Glteder des Tieres und in herrlich fun-
kelnder Bewegung seincs eigenen Auges und seiner
eigenen Gliedmahen wiederverspürt. Dieses Schauen
hat Rückwirkungen im Durchdringen des ganzen
eigencn Leibes. Es genügt kein denkverstandliches
Behalten diejes pflanzlichen Wesens, selbst Mit-
empfinden und Einfühlen genügt nicht. „Einverleiben
ist Voraussehung fruchtbaren Schauens und Schaf-
fens." Darum finden zur lehken Klarmachung des
Geheimnisses des organisch-psychischen Wesens und
Lebens einer Pflanze vor der endgültigen Nieder-
schrift rhythmische Bewegungen des Körpers und
seiner Gliedmahen statt, die dem Wachstum der
Pflanze analog sind. Der junge Mensch fühlt di?
Dehnung der Gewächse und ihre verschiedenartige
Lebensäuherung in sich selbst und seinem eigenen
Blute. Ohne jegliches technisches Material wird der
Gesamtbau einer Pflanze mit beiden blojzen Händen
und feinften Fingerspihengefühl in seiner Bewegung
auf der weihen Fläche des Papters abgetastet. Erst
nachdem üer Schüler den Organismus des zu Ge-
staltenden sinnlich und seelisch voll erfaht hat, wird
mit der zeichnerischen Arbeit begonnen. „Die Finger-
spihen empfinden schwebende Blülenreiser als Fin-
ger der Pflanzen, die sie in die Lufk, in den er-
nährenden und beseeligenden Llchkäther kauchen, in
dem Zweig an Zweig und Blatt an Blatk Äbstand
nehmen in fast unbegreiflichem Taktgefühl."
Wer einmal das Geheimnis dieser pflanzlichen
Lebewelt in sich ausgenommen und wer einmal das
Lied des Genius, der solche Geschöpfe von innen her
schuf, in eigener Sprache nachzudlchken vermag, der
wird keine verlogene Erscheinung irgendetnes Kunft-
gewerbes und setchten Kitsches in seiner Ilmgebung
dulden. Er wird das als Qualität erkennen und för-
dern, was aus ulahrheitsgetreuem Erleben zur Form
gebildet wurde. Er wird bewundernd erkennen, datz
die Welt um ihn herum die grosie Symphonle des
Lebens immer wieder und wieder spielk. Er wlrd
in einsamen Schluchken vor riesigen Felswänden
seine Nichtigkeik erkennen und anbekend die Schönheit
üer Blume zu seinen Füfzen betrachten. Er wird
die Einheit der Welt und des Lebens und „die Ab-
hängigkeii vom Unendlichen" immer wieder und
wieder erleben und sich erlösen aus den Qualen und
Sorgen des Alltags.
Äber den Zusammenhang zwischen Musik und bildender Kunst
Von Zans K e ller, Skukkgart (Schluß)
Linear und Malerisch.
Zm Zusammenhang mit der mitkelalkerlichen Kunst
und Musik kann man häufig die Bezeichnung „Line-
are Kunft" hören im Gegensah zu dem „malerischen"
Charakter von Werken späterer Zeit. Ta'sächlich
lähk sich der Gegenjah von „linear und malerisch,, in
dem Sinne, wie ihn Wölfflin für die bildende
Kunsk aufgesiellk hat, ohne weikeres auch auf das
musikalische Schaffen Lberkragen: Die einsiimmige
Melodie eines allen Volksliedes z. B. verfolgt eine
klare, eindeukige „Linie". ich meine die einzelnen
Zniervallschritte der Melodie bilden eine forklaufende
ununkerbrochene Bewegung, eine zeitliche Linie (für
das Ohr gleichsam „abkastbar", wenn man so sagen
könnte). Äuch für reichere Tongebilde mehrstimmiger
Ark g>U das: 3ede Skimme, klar geführt, verfolgt
ihre eigene Bahn, konkinuierlich reihen flch die Ton-
figuren aneinander, deutlich lrikk die „Linie" als
Führerin hervor und als Haupkk ägerin des Aus-
drucks. Es gibt also „lineare Musik". — Der llneare
Musiker arbeitet nicht mit harmonischen Akkordfol-
gen, die gleichsam als „Packungen", als „harmonische
Klangbündel" eine führende Melodie begleiken. Denn
eine solche Gesialkung mit Akkordmassen führt, wie
wir nachher sehen werden, Ins Malerische and isi
unvereinbar mit „Linearität". — Der „lineare" Musi-
ker schreibk entroeder in der reinen Emstimmigkeit
oder aber im sog. „polyphonen" Sah. (Beispiel „line-
arer" Musik haben wir In den alten Volksliedern
und Madrigalen, den Werken der vor-Vachscken
Meister, in Bach selbst vor allem und Händel.) Was
hat man eigenklich unter „polyphonem Sah", unter
„Polyphonie" zu verstehen?
Polyphonie.
Polyphonie heitzt Vielfkimmigketk. — Soll
Vlelstimmigkeit herrschen in einem künstlrrifchen Ke-
bilde, so bedeuket dies einerseiks eine weikgehende
Selbständigkeit der Teile, andererseiks eine um so
straffere Bindung, wenn -as Ganze nicht auseinander-
fallen soll. — Das Wesen der Polyphonie bestehl dar-
in, üah die Grundelemente in der Muflk, die Znker-
valle, an sich ja unendlich, beschränkt werdcn auf
wenige. Sie werden gegeneinander ausgeglichen
durch Vernachlässigung der Unterschiede (temperierte
chromakische Tonleiter). Das verlangk die innere
Skraffheit der Organisakiön des poiyphonen Si.ls.
Manche sagen auch feine Starrheit! Er wirkk viel-
leicht ftarr gegenüber allen bewegllcheren Biläungen
im selben Sinne, wie ekwa ein byzankinlsches Mosaik
gegenüber einer lmpressionistischen Malerei starr ist.
Ünd wie die Technik des Mosaiks den Künstler dazu
zwingt, sich auf eine beschränkte Anzahl von Grund-
elemenken festzulegen: Steinchen von gewisser Gröhe
und gewissen Winkeln und gewissen Farben, und Ihm
nicht gestatlet, mit biegsamem Pinsel alle Zwischen-
werte auszukosken, so muh sich der polyphone Musi-
ker auf verhälknismähig wenige und fast einförmig
sckeinende Grundelemenke beschränken. Ein solcher
Künskler greift zu diesen Mitleln eben deshalb, weil
ihm Klarheit, Strenge und grohe Einfachheik der
Form am Aerzen liegk.
Klar, eindeukig und sicher führk Bach seine einzel-
nen Skimmen skrsng linsar durch; sie einen sich zu
einem kristallklaren Gesamtbau, wie etwa die line-
aren Kraftleikungen der elnzelnen Glieder eines gokk-
schen Doms.
rauscht, die mehr ift als gedanklich zu erklärendes
Vermögen, das ihn nur cin klelnes Stück auf dem
Wege des Erfassens begleiken kann und muß, bis
ihm aus diesen Gebilden der Hauch des „Urgenius"
enlgegenweht, den er auch tn Millionen jahrealter
Festigkeit des Steines, in der Dehnung und Span-
nung der Glteder des Tieres und in herrlich fun-
kelnder Bewegung seincs eigenen Auges und seiner
eigenen Gliedmahen wiederverspürt. Dieses Schauen
hat Rückwirkungen im Durchdringen des ganzen
eigencn Leibes. Es genügt kein denkverstandliches
Behalten diejes pflanzlichen Wesens, selbst Mit-
empfinden und Einfühlen genügt nicht. „Einverleiben
ist Voraussehung fruchtbaren Schauens und Schaf-
fens." Darum finden zur lehken Klarmachung des
Geheimnisses des organisch-psychischen Wesens und
Lebens einer Pflanze vor der endgültigen Nieder-
schrift rhythmische Bewegungen des Körpers und
seiner Gliedmahen statt, die dem Wachstum der
Pflanze analog sind. Der junge Mensch fühlt di?
Dehnung der Gewächse und ihre verschiedenartige
Lebensäuherung in sich selbst und seinem eigenen
Blute. Ohne jegliches technisches Material wird der
Gesamtbau einer Pflanze mit beiden blojzen Händen
und feinften Fingerspihengefühl in seiner Bewegung
auf der weihen Fläche des Papters abgetastet. Erst
nachdem üer Schüler den Organismus des zu Ge-
staltenden sinnlich und seelisch voll erfaht hat, wird
mit der zeichnerischen Arbeit begonnen. „Die Finger-
spihen empfinden schwebende Blülenreiser als Fin-
ger der Pflanzen, die sie in die Lufk, in den er-
nährenden und beseeligenden Llchkäther kauchen, in
dem Zweig an Zweig und Blatt an Blatk Äbstand
nehmen in fast unbegreiflichem Taktgefühl."
Wer einmal das Geheimnis dieser pflanzlichen
Lebewelt in sich ausgenommen und wer einmal das
Lied des Genius, der solche Geschöpfe von innen her
schuf, in eigener Sprache nachzudlchken vermag, der
wird keine verlogene Erscheinung irgendetnes Kunft-
gewerbes und setchten Kitsches in seiner Ilmgebung
dulden. Er wird das als Qualität erkennen und för-
dern, was aus ulahrheitsgetreuem Erleben zur Form
gebildet wurde. Er wird bewundernd erkennen, datz
die Welt um ihn herum die grosie Symphonle des
Lebens immer wieder und wieder spielk. Er wlrd
in einsamen Schluchken vor riesigen Felswänden
seine Nichtigkeik erkennen und anbekend die Schönheit
üer Blume zu seinen Füfzen betrachten. Er wird
die Einheit der Welt und des Lebens und „die Ab-
hängigkeii vom Unendlichen" immer wieder und
wieder erleben und sich erlösen aus den Qualen und
Sorgen des Alltags.
Äber den Zusammenhang zwischen Musik und bildender Kunst
Von Zans K e ller, Skukkgart (Schluß)
Linear und Malerisch.
Zm Zusammenhang mit der mitkelalkerlichen Kunst
und Musik kann man häufig die Bezeichnung „Line-
are Kunft" hören im Gegensah zu dem „malerischen"
Charakter von Werken späterer Zeit. Ta'sächlich
lähk sich der Gegenjah von „linear und malerisch,, in
dem Sinne, wie ihn Wölfflin für die bildende
Kunsk aufgesiellk hat, ohne weikeres auch auf das
musikalische Schaffen Lberkragen: Die einsiimmige
Melodie eines allen Volksliedes z. B. verfolgt eine
klare, eindeukige „Linie". ich meine die einzelnen
Zniervallschritte der Melodie bilden eine forklaufende
ununkerbrochene Bewegung, eine zeitliche Linie (für
das Ohr gleichsam „abkastbar", wenn man so sagen
könnte). Äuch für reichere Tongebilde mehrstimmiger
Ark g>U das: 3ede Skimme, klar geführt, verfolgt
ihre eigene Bahn, konkinuierlich reihen flch die Ton-
figuren aneinander, deutlich lrikk die „Linie" als
Führerin hervor und als Haupkk ägerin des Aus-
drucks. Es gibt also „lineare Musik". — Der llneare
Musiker arbeitet nicht mit harmonischen Akkordfol-
gen, die gleichsam als „Packungen", als „harmonische
Klangbündel" eine führende Melodie begleiken. Denn
eine solche Gesialkung mit Akkordmassen führt, wie
wir nachher sehen werden, Ins Malerische and isi
unvereinbar mit „Linearität". — Der „lineare" Musi-
ker schreibk entroeder in der reinen Emstimmigkeit
oder aber im sog. „polyphonen" Sah. (Beispiel „line-
arer" Musik haben wir In den alten Volksliedern
und Madrigalen, den Werken der vor-Vachscken
Meister, in Bach selbst vor allem und Händel.) Was
hat man eigenklich unter „polyphonem Sah", unter
„Polyphonie" zu verstehen?
Polyphonie.
Polyphonie heitzt Vielfkimmigketk. — Soll
Vlelstimmigkeit herrschen in einem künstlrrifchen Ke-
bilde, so bedeuket dies einerseiks eine weikgehende
Selbständigkeit der Teile, andererseiks eine um so
straffere Bindung, wenn -as Ganze nicht auseinander-
fallen soll. — Das Wesen der Polyphonie bestehl dar-
in, üah die Grundelemente in der Muflk, die Znker-
valle, an sich ja unendlich, beschränkt werdcn auf
wenige. Sie werden gegeneinander ausgeglichen
durch Vernachlässigung der Unterschiede (temperierte
chromakische Tonleiter). Das verlangk die innere
Skraffheit der Organisakiön des poiyphonen Si.ls.
Manche sagen auch feine Starrheit! Er wirkk viel-
leicht ftarr gegenüber allen bewegllcheren Biläungen
im selben Sinne, wie ekwa ein byzankinlsches Mosaik
gegenüber einer lmpressionistischen Malerei starr ist.
Ünd wie die Technik des Mosaiks den Künstler dazu
zwingt, sich auf eine beschränkte Anzahl von Grund-
elemenken festzulegen: Steinchen von gewisser Gröhe
und gewissen Winkeln und gewissen Farben, und Ihm
nicht gestatlet, mit biegsamem Pinsel alle Zwischen-
werte auszukosken, so muh sich der polyphone Musi-
ker auf verhälknismähig wenige und fast einförmig
sckeinende Grundelemenke beschränken. Ein solcher
Künskler greift zu diesen Mitleln eben deshalb, weil
ihm Klarheit, Strenge und grohe Einfachheik der
Form am Aerzen liegk.
Klar, eindeukig und sicher führk Bach seine einzel-
nen Skimmen skrsng linsar durch; sie einen sich zu
einem kristallklaren Gesamtbau, wie etwa die line-
aren Kraftleikungen der elnzelnen Glieder eines gokk-
schen Doms.